Publiziert am: 17.01.2014

Folgen wären unabsehbar

PERSONENFREIZÜGIGKEIT – Die Masseneinwanderungsinitiative sorgte gut drei Wochen vor der Abstimmung in Klosters für engagierte Diskussionen. Einig war man sich nur über Eines:

Rudolf Strahm, Bildungsexperte und sgz-Kolumnist und Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft SECO sorgten mit ihren Referaten an der 65. Gewerblichen Winterkonferenz in Klosters für anregende Inputs.

Der ehemalige Preisüberwacher Strahm lotete das Spannungsfeld von Fachkräftemangel und Masseneinwanderung aus und stellte gleich zu Beginn klar: «Jährlich einmal die Stadt St. Gallen oder zweimal die Stadt Biel: Die Zuwanderung stellt uns alle vor ein Dilemma, egal wie wir am 9. Februar abstimmen werden.» Der Bundesrat habe sich im Jahr 2000 «massiv verrannt», als er seine Annahmen zur künftigen Zuwanderung publiziert habe, und die Regierung habe durch ihre grobe Unterschätzung der Entwicklung stark an Glaubwürdigkeit eingebüsst.

Strahm zog eine durchzogene Bilanz der Personenfreizügigkeit (PFZ): Gewinner oder Verlierer seien – je nach Branche und Region – die Unternehmen. Vor allem die hochproduktiven Branchen erfreuten sich durch den Zuzug hochqualifizierter Fachkräfte eines Produktionsgewinns, strukturschwache Branchen wie etwa die Landwirtschaft dagegen würden durch die Tieflohn-Zuwanderer in ihrer Schwäche geradezu zementiert.

Bildungsferne Zuwanderer

Rund die Hälfte der Zuwanderer verfügen laut Strahm über eine hohe Qualifikation, rund ein Drittel stamme aus bildungsfernen Schichten. Satte 55 der Portugiesen – 2013 wanderten rund 18‘000 aus dem Südwesten der EU in die Schweiz ein – kämen ohne nachobligatorische Ausbildung hierher. Strahm plädierte vor diesem Hintergrund für eine Pflicht zum Spracherwerb für alle Migranten in der Schweiz, also auch für EU-Bürger.

Strahm forderte zudem ein verbessertes Monitoring zur Abstützung der PFZ. Dazu gehöre die Überprüfung des Bildungsstands resp. der Qualifikationen der Einwanderer ebenso wie eine Abschätzung der Folgen der Zuwanderung auf das Sozialsystem oder die Schullandschaft. Für den Fall einer Annahme der Masseneinwanderungsinitiative forderte Strahm materielle Nachverhandlungen der PFZ und namentlich eine dauerhafte Ventilklausel, wie sie Liechtenstein und Norwegen bereits kennen.

Der oft beklagte Fachkräftemangel in der Schweiz sei hausgemacht, so Strahm weiter. Es würden massiv zu viele Geistes- und Sozialwissenschafter, aber zu wenig Natur- und technische Wissenschafter sowie Mediziner und Pflegefachleute ausgebildet. Zur Verdeutlichung: 2300 Arbeitslose mit Doktortitel waren 2012 bei den Arbeitsvermittlungsämtern RAV gemeldet. Vor diesem Hintergrund forderte Strahm eine vermehrte Steuerung der Universitäten, denn die hätten schlicht «eine andere Wahrnehmung» als die Menschen ausserhalb des Elfenbeinturms.

Zum Fachkräftemangel trage auch die Tatsache bei, dass die Höhere Berufsbildung zu den verkanntesten Bereichen der Bildung gehöre. Diese habe sich nämlich – mehr noch als die Hochschulen – als wichtigster Motor für die Verbreitung neuer Technologien in der KMU-Wirtschaft erwiesen.

Hände weg vom Mindestlohn

Boris Zürcher vom SECO zeigte auf, wie sich die Finanzkrise auf den Schweizer Arbeitsmarkt ausgewirkt hat. Wurden zwischen 2003 und 2008 gegen 350‘000 neue Stellen geschaffen, so halbierte sich der Zuwachs zwischen 2008 und 2013 auf knapp 180‘000. Und dennoch habe sich die Beschäftigungslage «unwahrscheinlich gut» entwickelt, lag doch die Arbeitslosigkeit Ende 2013 bei bloss noch drei Prozent. Dies zeige sich ganz direkt auch beim Sorgenbarometer von Herr und Frau Schweizer, bei denen die Besorgnis um den eigenen Arbeitsplatz noch nie so tief gewesen sein wie heute. Dass der Arbeitsmarkt Schweiz derart gut funktioniere, sein «ein kleines Kunststück», auch wenn die Produktivität der hiesigen Wirtschaft in den letzten sechs Jahren gelitten habe. Voraussetzung für dieses Jobwunder sei die Flexibilität des Arbeitsmarkts Schweiz, so Zürcher. «Die Mindestlohninitiative, über die wir am 18. Mai abstimmen werden, würde diese Flexibilität stark einschränken.»

Wichtige Diskussion

Unter Leitung eines gut gelaunten «Weltwoche»-Chefs Roger Köppel diskutierten die Nationalräte Luzi Stamm und Thomas Aeschi (beide SVP) und Daniel Vischer (Grüne) sowie alt Nationalrat und Baumeisterpräsident Werner Messmer und der SGB-Chefökonom Daniel Lampart. sgv-Vorstandsmitglied Messmer bezeichnete auf dem lebhaften Podium die am 9. Februar zur Abstimmung kommende Masseneinwanderungs- als «Katastrophen-Initiative», weil sie die Entwicklung der Schweiz seit der Einführung der PFZ mit der Schaffung von 600‘000 neuen Jobs ignoriere, die Einwanderung von Arbeitsuchenden und Asylsuchenden vermische und weil völlig unklar sei, wer künftig die Quoren für die Zuwanderung bestimme und welche Branchen allenfalls hinten anstehen müssten. Dennoch meinte Messmer: «Die Diskussion über die Folgen des Wirtschaftswachstums ist wichtig.»

Moderator Köppel beendete das Podiumsgespräch mit einem Vergleich: «Die sgv-Winterkonferenz in Klosters ist punkto intellektuelle Flughöhe dem WEF in Davos zumindest ebenbürtig, in Sachen Warmluftausstoss jedoch liegt das WEF klar vorne.»

Gerhard Enggist

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