Publiziert am: 20.11.2015

Stark dank Schweizer Stärke

Meyerhans – Getreidemühlen stehen wegen Überkapazitäten in der Mehlproduktion unter Margendruck. Deshalb hat die Meyerhans Mühlen AG einen Prozess entwickelt, mit dem sie aus Weizenmehl ein Stärkeprodukt für die Papierindustrie herstellt.

Wellkarton ist ein beliebtes Verpackungsmaterial, denn er ist leicht und stabil. Über 350 000 Tonnen Wellkarton hat die Schweizer Papierindustrie 2014 hergestellt, Tendenz steigend. Während die elf Schweizer Papierfabriken im Inland generell mit einer sinkenden Nachfrage kämpfen, konnten sie die Wellkarton-Exporte in den letzten Jahren deutlich steigern. Hergestellt wird Wellkarton aus glattem und gewelltem Wellkarton-Papier, das schichtenweise übereinandergelegt wird. Damit das Wellkarton-Papier die gewünschte Festigkeit erhält, wird es bei der Herstellung mit Stärke versteift. Den dafür benötigten Stärkeleim (Stärkeslurry) stellen die Papierfabriken bisher in der Regel selber aus importierter Weizen-, Kartoffel- oder Maisstärke her. Die Papierfabrik der Model AG in Weinfelden (TG) zum Beispiel produziert jährlich 175 000 Tonnen Wellkarton-Papier und führte dafür bisher jährlich rund 3500 Tonnen Weizenstärke aus Luxemburg und Belgien ein.

«Hergestellt wird Wellkarton aus glattem und gewelltem Wellkarton-Papier.»

Doch das ist Geschichte. Denn mit der Meyerhans Mühlen AG in Weinfelden ist seit Kurzem ein neuer Schweizer Anbieter von industriellen Stärkeprodukten am Markt. Bisher hat die Getreidemühle insbesondere Bäckereien, Teigwarenfabriken und Müeslihersteller mit Mehlen aus Weizen und anderen Getreideprodukten beliefert. Jetzt wagt das Unternehmen den Schritt über die Lebensmittelbranche hinaus. Es produziert ein leistungsfähiges Stärkeprodukt und beliefert mit ihm die Papierfabriken in Weinfelden und Niedergösgen (SO), beides Töchter der international tätigen Model-Gruppe. Meyerhans hat mit beiden Papierfabriken langfristige Lieferverträge abgeschlossen, weitere Kunden unter den Schweizer Papierfabriken könnten folgen. Damit scheint dem findigen KMU aus Weinfelden mit seinen 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Coup zu gelingen: einen industriellen Prozess und die zugehörige Wertschöpfung vom Ausland in die Schweiz zu verlagern.

Margenerosion 
beflügelt Innovation

Am Hauptsitz der Meyerhans Mühlen im Industriegebiet von Weinfelden erhebt sich der wuchtige Betonturm der modernen Getreidemühle, daneben stehen die noch höheren Getreidesilos. Die Meyerhans Mühlen vermahlen in den vier Niederlassungen Weinfelden (TG), Rheineck (SG), Malters (LU) und Villmergen (AG) ein Vollsortiment an Getreideprodukten. Die Mühle in Weinfelden verfügt über eine Verarbeitungskapazität von 100 Tonnen Getreide pro Tag. Das mag bescheiden sein im Vergleich mit internationalen Grossmühlen. Für die Schweiz ist es jedoch respektabel: Das Familienunternehmen belegt unter den 70 Mühlen des Landes Platz drei und ist die grösste Schweizer Mühle in Privatbesitz. Die Inhaberfamilie besitzt die ehemalige Gemeindemühle seit 1890.

«Die Meyerhans Mühlen vermahlen ein Vollsortiment an Getreideprodukten.»

Mit der Herstellung eines Stärkeprodukts für die Papierindustrie diversifiziert Meyerhans seine Tätigkeit über die Lebensmittelbranche hinaus. Der Schritt kommt nicht ganz freiwillig. Die Unternehmensleitung machte den Schritt, weil sich im Stammgeschäft der Herstellung von Mehl immer weniger Geld verdienen lässt. «Seit die staatlich regulierten Getreide- und Mehlpreise Mitte der 1990er Jahre freigegeben wurden, erleben wir eine Margenerosion», sagt Dominic Meyerhans, der 39-jährige Firmenchef, der das Unternehmen seit Juli 2015 in sechster Generation leitet. Vor diesem Hintergrund beschloss die Geschäftsleitung eine strategische Neuausrichtung, die sich an den Leitbegriffen Kundennähe und Innovation orientiert.

Mehl ist nicht gleich Mehl

Innovation – das bedeutet im Fall der Meyerhans Mühlen einen neuen Blick auf das alte Produkt Mehl. «Wir schauen Mehl nicht mehr einfach als Mehl an, sondern als die Summe seiner Inhaltsstoffe, das bringt einen auf neue Ideen», sagt Dominic Meyerhans. Mehl besteht neben Proteinen, Fetten, Schleim- und Mineralstoffen vor allem aus Stärke. Mit dem Mehlbestandteil Stärke baut die Firma nun ein neues Standbein auf. Damit dies gelingen konnte, hatte auch der Zufall seine Hand im Spiel: Als Dominic Meyerhans der Papierfabrik der Model AG, die in unmittelbarer Nachbarschaft im Industriegebiet von Weinfelden produziert, vor Jahren einen Besuch abstattete, lernte er, dass der Mehl-Bestandteil Stärke für die Versteifung von Wellkarton-Papier gebraucht wird.

Meyerhans prüfte in der Folge zwei konventionelle Verfahren zur Stärkeherstellung, die ihn aber beide nicht überzeugten. Mit Unterstützung der Brümmer Extrusion Consulting (Wittenbach/CH), des Fraunhofer Instituts (Potsdam-Golm/D) und der Papiertechnischen Stiftung (Heidenau/D) entwickelte er stattdessen ein innovatives Verfahren zur Stärkeprodukt-Herstellung. Sechs Millionen Franken flossen in Entwicklung und Produktionsanlage. Um das unternehmerische Risiko des innovativen Prozesses abzufedern, leisteten die Klimastiftung Schweiz und der Kanton Thurgau (Teilprojekt Abwärmenutzung) eine finanzielle Unterstützung an das Vorhaben. Auch das Bundesamt für Energie (BFE) unterstützt das Projekt im Rahmen seines Pilot- und Demonstrationsprogramms, unter anderem aufgrund des hohen Innovationsgehalts des entwickelten Prozesses und des grossen Energieeinsparungspotenzials im In- und Ausland. Am 12. November 2015 wurde die Anlage in Weinfelden mit einer Feier offiziell in Betrieb genommen.

Massive Energieeinsparung

Die neue Anlage erstreckt sich über vier Geschosse. Hier sollen fortan pro Jahr mehrere tausend Tonnen Stärkeprodukt hergestellt werden. Das Stärkeprodukt wird über eine 400 Meter lange Pipeline in die benachbarte Papierfabrik befördert bzw. mit Lastwagen in die Papierfabrik Niedergösgen transportiert. Gegenüber der konventionellen Stärkeproduktion mit Nassprozess kommt das neue Verfahren mit 84 Prozent weniger Energie aus – der Strombedarf wird um 49 Prozent, der Wärmebedarf sogar um 99 Prozent gesenkt. Unter dem Strich werden im Vergleich zum konventionellen Prozess gut 14 000 MWh Energie pro Jahr eingespart. Das entspricht dem Wärme- und Strombedarf von 1800 Vier-Personen-Haushalten (Neubau). Hinzu kommen weitere Energieeinsparungen in der Papierfabrik und bei den LKW-Transporten.

«Der Strombedarf wird um 49 Prozent, der Wärmebedarf sogar um 99 Prozent gesenkt.»

Die genannten Einsparungen wurden im Herbst 2015 von der Engineering-Firma Rytec AG (Münsingen/BE) in einer umfassenden Messkampagne ausgewiesen. «Die Meyerhans Mühlen haben einen industriellen Prozess mustergültig durch einen effizienten Alternativprozess substituiert. Das ist der Königsweg für grosse Effizienzgewinne, und Nachahmer wären gefragt», sagt Dr. Michael Spirig von der Fomenta AG, der das Projekt im Auftrag des BFE begleitet hat. Das hierfür entwickelte technische Knowhow stärke die Position von Schweizer Maschinenbauern auf den Exportmärkten und trage zu Energie- und CO2-Einsparungen im Ausland bei. Spirig betont jedoch auch, der konkrete Prozess sei produktspezifisch, er könne kaum eins zu eins auf andere Branchen übertragen werden. Übertragbar sind aber der Substitutionsgedanke und die Form der Zusammenarbeit: Der neue Prozess konnte nur implementiert werden, indem Meyerhans mit Model kooperierte. «Wenn Lieferant und Kunde zusammenspannen, ist das ein optimaler Nährboden für Innovationen», so Spirig.

Vertrauen zwischen 
Lieferant und Kunde

Der Kunde – das sind in diesem Fall die Papierfabriken der Model AG in Weinfelden und Niedergösgen. Die Papierfabrik in Weinfelden hat unterdessen mit dem Stärkeprodukt von Meyerhans schon mehrere Monate Erfahrung gesammelt. «Für uns hat das neue Stärkeprodukt zwei Vorteile», sagt Betriebsleiter Andreas Klumpp. «Zum einen können wir pro Jahr ca. 800‘000 Kilometer LKW-Transport sparen, weil wir das Stärkeprodukt für unsere Papierfabriken in Weinfelden und Niedergösgen jetzt aus der Nähe und nicht mehr aus dem Ausland beziehen. Zum zweiten können wir in unserem Werk einen doppelten Prozessschritt und damit nochmals 5000 Tonnen Dampf sparen, da uns Meyerhans die Stärke bereits in anwendungsfertiger Form liefert.» Die mit der Energieersparnis, den leicht tieferen Stärkeproduktkosten und dem Minderverbrauch von Abbauchemikalien einhergehende Kostensenkung ist so erheblich, dass die Model AG ihre Vier-Millionen-Investition in den beiden Werken Weinfelden und Niedergösgen, die zur Anpassung des Prozesses nötig war, voraussichtlich in vier Jahren amortisiert haben wird. „Wir sind mit dem neuen Prozess ein erhebliches Risiko eingegangen, denn unser Lieferant hatte mit der Stärkeproduktion bisher keine Erfahrung» sagt Klumpp. Dass sich die Model AG zu diesem Schritt entschlossen hat und damit eine für Schweizer KMU beispielhafte Innovation ermöglicht hat, liegt laut Klumpp massgeblich auch an weichen Faktoren: «Möglich wurde die Kooperation durch das Vertrauensverhältnis, das zwischen den beiden Familienunternehmen seit Langem besteht.»

Benedikt Vogel, im Auftrag des Bundesamts für Energie (BFE)

Weizenmehl

Leim für die Papierherstellung

Weizenstärke ist ein üblicher Rohstoff, um Leim für die Produktion von Wellkarton-Papieren zu erzeugen. Beim herkömmlichen Herstellungsverfahren wird aus Weizenmehl über einen energieintensiven Nassprozess native (natürliche) Stärke gewonnen. Diese wird dann in der Papierfabrik zu Stärkeleim weiterverarbeitet, der für die Herstellung des Wellkarton-­Papiers verwendet wird.

Um aus Weizenmehl Leim für die Herstellung von Wellkarton-Papier zu produzieren, hat die Meyerhans Mühlen AG mit Partnern ein innovatives Herstellungsverfahren entwickelt, um aus Weizenmehl direkt ein Stärkeprodukt für die Papierindustrie herzustellen. Im neu installierten Prozess verwenden die Meyerhans Mühlen einen sogenannten Extruder. Ein Extruder ist sehr vereinfacht ausgedrückt eine Art Fleischwolf, in dem das mit Prozesshilfsstoffen versetzte Weizenmehl mittels Förderschnecke durch eine Lochplatte gepresst wird. Dabei entstehen Pellets, die anschliessend fein vermahlen werden. Ergebnis ist das Stärkeprodukt, in dem die Stärke in aufgeschlossener Form vorliegt. Das Stärkeprodukt wird dann in der Papierfabrik zur Herstellung von Stärkeleim verwendet.

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