Publiziert am: 20.02.2015

«Zweite Röhre muss sein»

GOTTHARD-STRASSENTUNNEL – 2016 wird abgestimmt, ob vor der Sanierung eine zweite Röhre gebaut werden soll. Ein Entscheid auch über die Sicherheit im längsten Strassentunnel der Welt.

Schweizerische Gewerbezeitung: Der Kanton Uri hat schon drei Mal Nein gesagt zu einer zweiten Röhre am Gotthard, Sie kämpfen weiter dafür. Sind Sie schlechte Verlierer?

n Isidor Baumann: Überhaupt nicht. Nach meinem Demokratieverständnis ist es nicht verboten, dass nach neuen Erkenntnissen eine Abstimmungsfrage erneut gestellt werden darf.

Als 2011 die Urnerinnen und Urner zu einer Standesinitiative und einem Gegenvorschlag der Urner Regierung Nein sagten, war die Ausgangslage anders. Den allermeisten Urnerinnen und Urnern war auch klar, dass ein definitiver Entscheid nicht vom Urner, sondern vom Schweizer Stimmvolk gefällt wird. Und darum geht 
es in der Referendumsabstimmung 2016.

«EINE VERLÄSSLICHE ­NORD-SÜD-VERBINDUNG IST FÜR DIE URNER WIRTSCHAFT EIN MUSS.»

René Röthlisberger, 
Präsident Wirtschaft Uri

 

n René Röthlisberger: Seit der letzten Abstimmung in Uri im Jahre 2011 liegen mehr und fundierte Fakten auf dem Tisch. Im Ergebnis bestätigen das Bundesamt für Strassen Astra und die Fachgremien heute, dass in der Gesamtbilanz und in der Kosten-Nutzen-Betrachtung ein zweiter Stras­sentunnel die wirtschaftlichste, nachhaltigste, sicherste und damit beste Lösung im Variantenvergleich darstellt. Dies unter Einhaltung des Alpenschutzartikels. Es ist auch unbestritten, dass die Umsetzung der Güterverlagerung auf die Neat uneingeschränkt durchgesetzt werden muss.

Wesentlich ist – und das bekräftigen auch ausgewiesene Eisenbahnexperten –, dass diese beiden Vorhaben uneingeschränkt parallel realisiert werden können und sich ergänzen, keinesfalls aber konkurrenzieren.

Was bedeutet es für das Verkehrssystem Schweiz, wenn der Gotthardtunnel saniert wird, ohne dass eine zweite Röhre bereitsteht?

n Isidor Baumann: Das schweizerische Verkehrssystem kann das möglicherweise verkraften. Es geht aber bei weitem nicht nur um das Verkehrssystem. Es geht auch um die Binnenwirtschaft und den Transitverkehr. Nicht vergessen werden darf der Kanton Tessin, der bei einer Sanierung während drei langen Jahren von der übrigen Schweiz abgeschnitten wäre. Und nicht zuletzt geht es auch um die Frage, ob der Gotthard nach der Sanierung in den kommenden 50 Jahren weiterhin nur mit einer Röhre im Gegenverkehr befahren werden soll. Wer eine solche Zukunft will und für wen mehr Sicherheit im längsten Strassentunnel der Welt keine Rolle spielt, kann 2016 ein Nein in die Urne legen. Ich aber empfehle, das nicht zu tun.

Wie würde sich eine Vollsperrung am Gotthard auf die lokale Wirtschaft auswirken?

n René Röthlisberger: Eine verlässliche und konstante Nord-Süd-Verbindung ist für die Wirtschaft in Uri ein Muss. Ein Arbeitsplatzverlust von bis zu 300 Stellen wäre die Folge einer Totalsperrung. Uri würde quasi für mehrere Jahre nationalstrassenmässig zu einer Sackgasse. Wer wird in so einer Region investieren?

«UNSERE HOTELLERIE UND GASTRONOMIE ­LEBEN ZUM GROSSEN TEIL VOM DURCHGANGSVERKEHR.»

Matthias Steinegger, Präsident FDP Uri

 

Nicht allein dies, sondern die unklare Lösung der grössten je in Europa gebauten Verladestation im Urnerland als Alternative würden weitere Jahre der Unsicherheit für die bestehenden Unternehmen bedeuten. Das müssen wir unbedingt vermeiden. Die Urner Wirtschaft will keine Basteleien mit temporären Kurz- und Lang-«RoLa» und neuen Rechtsstreitigkeiten.

Mit welchen Auswirkungen müsste der Tourismus rechnen, bliebe der Gotthard-Strassentunnel tatsächlich während dreier Jahre gesperrt?

n Matthias Steinegger: Das hiesige Gewerbe ist ganz direkt von einer ungehinderten Erreichbarkeit abhängig. Unsere Hotellerie und Gastronomie leben zu einem grossen Teil vom Durchgangsverkehr. Bricht dieser weg, ist die Branche existenziell bedroht. Am härtesten von einer Totalsperrung betroffen wäre das Oberland mit seinen Übergängen ins Obergoms/Wallis und in die Surselva. Doch auch die Leventina wäre existenziell betroffen, wenn das Tessin vom Rest der Schweiz abgeschnitten würde. Die Schwierigkeiten für den Tourismus würden also weit über das Urnerland hinausreichen.

Die Gegner einer zweiten Röhre wollen Ihnen eine «rollende Landstrasse» (RoLa) schmackhaft machen. Haben Sie dafür überhaupt die nötigen Landreserven?

n Isidor Baumann: Ich war von 2000 bis 2012 Regierungsrat des Kantons Uri und war für das Dossier Neat in Uri verantwortlich. In enger Zusammenarbeit mit dem Regierungsrat, den Gemeinden und allen Parteien, Organisationen und Verbänden hatte sich Uri stark gemacht – für «Neat in den Berg». Für dieses Projekt wurden inzwischen vom Bund über 50 Millionen Franken zulasten des Neat-Kredits vorinvestiert. Die wichtigsten Argumente waren, den Lebensraum zu entlasten und das knappe Bau- und Kulturland zu schonen.

«EINE ‹ROLA› WÜRDE 
URI ZUM ‹LASTWAGENBAHNHOF EUROPAS› MACHEN – DAS IST ­INAKZEPTABEL.»

Isidor Baumann, Ständerat CVP∕UR

 

Uri forderte einst nachdrücklich eine «schlanke» Neat im Talboden und eine minimale Zahl von Reservegeleisen vor dem Neat-Portal. Diese Forderung hat ein geeintes Uri mit mehreren hundert Einsprachen auch erwirken können. Der Vorschlag für eine «rollende Landstrasse» steht meines Erachtens dazu in krassem Widerspruch. Betrachtet man die knappen Landreserven in Uri und die neu entstehenden Lärm- und Umweltbelastungen im dicht besiedelten Urner Talboden, dann ist eine «rollende Landstrasse» für unseren Kanton inakzeptabel, weil entwicklungs- und lebensqualitätsschädigend.

Welche Investitionen wären nötig, um eine «RoLa» betreiben zu können, und wie nachhaltig wäre sie?

n Isidor Baumann: Für diese Investitionen gibt es zurzeit nur Vorprojekte. Ich bin überzeugt: Wenn die Auflageprojekte vorliegen, kommt das grosse Erwachen in Uri. Die Fragen der Raumverträglichkeit bis zu möglichen Enteignungen werden zu ähnlichen Widerstandsbewegungen führen wie bei den Auflageprojekten zur Neat vor gut zehn Jahren.

Auf die Frage der Nachhaltigkeit einer «RoLa» gibt es für mich nur eine Antwort: Für Uris Entwicklung, seine Umwelt und selbst das Image des Bergkantons wäre eine «RoLa» unverantwortbar. Denn Uri würde dann unweigerlich zum «Lastwagenbahnhof Europas». Und das will nun wirklich niemand ernsthaft in Uri.

Was würde eine zweite Röhre für die Verkehrssicherheit bedeuten?

n Matthias Steinegger: Sie spüren den Unterschied ja selber: Durch den richtungsgetrennten Seelisbergtunnel fahren Sie entspannt – der Gegenverkehr im Gotthardtunnel dagegen bedeutet angespannte Höchstkonzentration. Seit dem verheerenden Grossbrand im Gotthard im Oktober 2001 gab es im Tunnel sieben Tote und 
70 Verletzte. Bei einem richtungsgetrennten Verkehr wären diese Opfer kaum zu beklagen. Anlässlich der Sanierung des Gotthardtunnels ist der richtige Moment gekommen, diese dringend nötige Verbesserung zu realisieren. Frontalkollisionen wären ausgeschlossen, und die Rettungskräfte könnten – sollte es dennoch zu einem Unfall kommen – ungehindert ihre Arbeit tun.

Und zum Stichwort Sicherheit noch dies: Im Schwerverkehrszentrum rund 15 Kilometer vor dem Tunnel werden die LKW auf Herz und Nieren geprüft, jede einzelne Schraube wird kontrolliert. Und nun soll im Tunnel selber die Sicherheit weiterhin wissentlich dem Zufall überlassen werden? Das verstehe, wer will...

Interview: Gerhard Enggist

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