Publiziert am: 05.02.2021

Arbeiterverwaltung funktioniert seit sieben Jahren

KMU ALS GENOSSENSCHAFT – Der Traditionsbetrieb hat 2019 organisatorisch ein neues Kapitel aufgeschlagen: Besitzerder Firma, der Liegenschaft und des Areals sind die sechs Angestellten – das Pionierprojekt scheint zu reüssieren

Die Winterthurer Nagelfabrik wird in Arbeiterselbstverwaltung geführt. Dabei werden alle wichtigen Entscheide in dem KMU von einer Belegschaftsverwaltung gefällt, wo jede und jeder eine Stimme hat. Gemäss Statuten ist die Mitgliedschaft in der Genossenschaft an einen Arbeitsvertrag in der Nagelfabrik gebunden und erlischt durch Austritt, Tod oder Ausschluss. So wird auch das Grundstück, auf dem die Nagelfabrik steht, der Immobilienspekulation entzogen.

Das Unternehmen schlug bereits 2013 diesen neuen Weg ein – dies aus praktischen Gründen. «Die Regelung der Nachfolge war damals ­unaufschiebbar. Da der Geschäftsführer ebenfalls zehn Jahr später pensioniert würde, haben wir mit dem Experiment sofort begonnen», erklärt Rainer Thomann. Diese «Doppelherrschaft» von Geschäftsführer und Mitarbeitenden war allerdings nur eine vorübergehende Lösung. Um die «Fabrik ohne Chef» auf eine stabile Grundlage zu stellen, war es erforderlich, dass die Belegschaft auch formelle Besitzerin der Firma wurde. «Wir gründeten mit dem Ziel, die Aktien der Schweizerischen Nagelfabrik AG zu erwerben, im Februar 2018 die «Genossenschaft zur Erhaltung der Nagelfabrikation in Winterthur», so Thomann.

Sicherer Arbeitsplatz

Dass es zu einer genossenschaftlichen Lösung kam, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eher ein Wunder. Der Prozess dauerte rund zwei Jahre, diverse Banken erwiesen sich nicht gerade als hilfsbereite KMU-Förderer. Letztlich war es dem Besitzer Heinz Gratwohl zu verdanken, dass die Lösung Wirklichkeit wurde. Er gab der Genossenschaft ein Darlehen, das diese nun verzinst und zurückzahlt. «In zehn Jahren stehen wir schuldenfrei da», ist Thomann überzeugt. Am Arbeitsalltag hat sich jedoch – ausser der Gewissheit, nun einen noch sichereren Arbeitsplatz zu haben – nichts geändert: «Die Arbeiterselbstverwaltung funktioniert seit sieben Jahren», so Thomann.

Lohnkosten einsparen und Produktivität steigern

Ein solches Modell setzt allerdings ein gutes Arbeitsklima und ein hohes Mass an Selbstverantwortung der Belegschaft voraus – zwei Dinge, die für den wirtschaftlichen Erfolg ohnehin unverzichtbar sind. Der eigentliche Lernprozess erstreckte sich über mehrere Jahre. «Hilfreich war in diesem Zusammenhang, dass der Geschäftsleiter sein Arbeitspensum bereits vor der Pensionierung reduziert hatte und nicht mehr alle Tage anwesend war. Auf diese Weise konnte die Belegschaft lernen, alltägliche Probleme allein zu lösen.»

Ein mutiger Beschluss vor fünf Jahren war die Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit von 42 auf 34 Stunden bei vollem Lohnausgleich. «Dies bedeutete praktisch die Einführung der Viertagewoche, wobei jeweils am Freitag mindestens eine Person anwesend sein muss», sagt Thomann. «Wenn die Produktivitätssteigerung zu Arbeitszeitverkürzungen genutzt wird, fördert das wiederum die Arbeitsleistung: nach drei freien Tagen kommen die Mitarbeitenden nämlich gut erholt und motiviert zur Arbeit und sind somit eindeutig leistungsfähiger.» Mit dieser unkonventionellen Betriebsorganisation können Lohnkosten eingespart und zudem kann die Produktivität gesteigert werden.

Chance für andere Betriebe

Thomann sieht das Modell der Nagelfabrik als grosse Chance für viele Betriebe, die ein akutes Nachfolgeproblem zu lösen haben und Gefahr laufen, ohne Nachfolger sang- und klanglos zu verschwinden. «Man darf aber nicht vergessen, dass es sich bei einer solchen Nachfolgelösung um einen längeren Prozess mit mehreren Etappen handelt. Der krönende Abschluss ist die Neuregelung der Eigentumsverhältnisse», betont Thomann. Er ist überzeugt, dass es sich lohnen würde, auf diese Weise Betriebe vor dem Verschwinden zu bewahren, «denn Genossenschaften haben in der Schweiz eine lange Tradition».

CR

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