Publiziert am: 22.01.2021

«Das geht nicht schnell vorbei»

KLAUS WELLERSHOFF – «Die Schulden von heute werden uns in der nächsten Krise um die Ohren fliegen», befürchtet der renommierte Ökonom. Die lang­fristigen Folgen der Krise würden zurzeit komplett ausgeblendet. Auf Dauer könne der Staat nämlich nicht als Vollkaskoversicherung auftreten.

Schweizerische Gewerbezeitung: Die Krise dauert bald ein Jahr an und hat längst historische Züge angenommen. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat wohl kein Thema Politik und Gesellschaft derart dominiert wie die Corona-Pandemie. Trotzdem: Unterschätzen wir diese Krise etwa noch immer?

Klaus Wellershoff: Ja, vor allen Dingen, weil wir uns über die langfristigen Folgen der Krise für unsere Gesellschaft bisher überhaupt keine Gedanken gemacht haben. Wir alle möchten, dass die Krise schnell vorbei geht. Aber realistisch ist das nicht. Und vor allem wird nach der Krise nicht wie vor der Krise sein. Schon allein die gestiegene Verschuldung wird über viele Jahre Ressourcen beanspruchen, die uns im Aufschwung fehlen werden. Und die Verhaltensmuster unserer Kunden haben sich wohl teilweise auch dauerhaft verändert.

«Wir alle möchten, dass die Krise schnell vorbei geht. realistisch ist das nicht.»

Wie lange dauert diese Krise noch und sind Ökonomen überhaupt imstande, dies vor-auszusagen?

Wir sind mitten in der grössten Weltrezession, die es jemals gegeben hat. In den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts ist längst nicht die ganze Welt so parallel abgestürzt wie jetzt. Das geht nicht schnell wieder vorbei, wie manche Ökonomen uns das seit bald einem Jahr versuchen weiszumachen. Interessant ist, dass diejenigen, die rufen, dass der Aufschwung schon im Gange ist, auch diejenigen waren, die den Anfang der Rezession verschlafen haben. Der Aufschwung kommt dann schon irgendwann, aber wann genau der Aufschwung beginnt, lässt sich heute genauso wenig sagen wie vor sechs Monaten.

«WIR SIND MITTEN IN DER GRÖSSTEN WELTREZESSION, DIE ES JE GEGEBEN HAT.»

Die Wertschöpfung der Schweizer Wirtschaft soll im Jahr 2021 um 3 Prozent steigen. Gleichzeitig heisst es, die Erholung werde lange und schwerfällig sein. Ist das kein Widerspruch?

Wenn man ehrlicherweise nicht sagen kann, wann der Aufschwung wirklich beginnt, kann man auch keine Jahreswachstumsraten prognostizieren. Solche Zahlen sind wertlos. Kommt hinzu, dass sich Wachstumsraten immer auf eine Ausgangsgrösse beziehen. Wenn man bedenkt, dass aufgrund des wiederum rückläufigen vierten Quartals das Jahr 2020 wahrscheinlich mit einem Minus von vier bis fünf Prozent zu Buche steht, wären wir selbst bei einem Plus von drei Prozent noch immer nicht, wo wir mal waren.

Auch einige Ökonomen haben nach Lockdowns gerufen, was durchaus erstaunen mag. Wie kommen diese denn auf so eine Forderung?

Dahinter steht die Einsicht, dass die Wirtschaft nur wieder Tritt fassen kann, wenn die Menschen keine Angst mehr vor einer Ansteckung haben und normal konsumieren und investieren. Dazu sollen die Ansteckungszahlen gesenkt werden. Dass das aber in dieser Phase der Pandemie den Menschen die Angst vor dem Virus nehmen kann, erscheint mir nicht sehr wahrscheinlich.

«Wann genau der Aufschwung beginnt, lässt sich heute genauso wenig sagen wie vor sechs Monaten.»

«Wir können es uns ja leisten» ist immer wieder zu hören. Ist das denn so?

Das sagt sich leicht, wenn man selber kaum Steuern zahlt oder sogar für den Staat arbeitet, und damit vielleicht sogar von den Ausgaben auch profitiert. Tatsache ist, dass die Zunahme der Verschuldung bereits in den letzten Jahren auf der ganzen Welt und auch bei uns enorm gewesen ist. Viele Leute haben vor zehn Jahren in der zugenommenen Verschuldung den Auslöser für die Finanzkrise von 2007 bis 2009 gesehen. Heute sind unsere Schulden aber weit höher als damals. In manchen Ländern sind es die Staatsschulden. Grossbritannien lag punkto Staatsverschuldung vor der Finanzkrise auf dem Schweizer Niveau. Dieses Jahr werden die Briten auf dem Niveau von Portugal angekommen sein. In der Schweiz sind es mehr die privaten Schuldner, die uns Sorgen machen. So sind die Hypotheken bei uns seit der Finanzkrise um über 50 Prozent angestiegen. Die Schulden von heute werden uns in der nächsten Krise um die Ohren fliegen.

Ganz konkret gefragt: Wie viel kostet uns ein Lockdown?

Wenn man davon ausgeht, dass wir aus der Erfahrung des Frühjahres gelernt haben, effizienter vorzugehen, muss man je nach Härte der Massnahmen mit einem Verlust an Volkseinkommen in der Grössenordnung von einem halben bis zu einem ganzen Prozent des Volkseinkommens pro Woche rechnen. Wenn wir das durch Transferzahlungen vom Staat ausgleichen, explodiert auch bei uns die Staatsverschuldung.

Wie beurteilen sie aus ökonomischer Perspektive die eingeleiteten Massnahmen wie Restaurantschliessungen, Covid-Kredite, Härtefallregelungen, Umsatzentschädigungen etc?

Staatliche Überbrückungshilfen machen dann Sinn, wenn in einer temporären Krise damit gerechnet werden muss, dass der Privatsektor das Problem nicht lösen kann und das Problem aber wieder absehbar vorübergeht. Das schien im Frühling der Fall zu sein. Die Banken hätten von sich aus den Unternehmen keine grosszügigen Überziehungskredite gewährt. Und die Arbeitslosigkeit wäre sicherlich sehr stark angestiegen, wenn wir keine Kurzarbeitsentschädigungen ausgerichtet hätten. Auf Dauer geht das aber nicht, weil der Staat weder die Mittel dazu hat noch den Auftrag besitzt, als Vollkaskoversicherung aufzutreten. Bei den Unternehmen hilft es auch einfach nicht, wenn die Verschuldung immer weiter steigt. Auch unter dem besten Aufschwungsszenario geht denen irgendwann einfach die Luft aus.

Was hat die Schweiz also seit Pandemie-Beginn falsch gemacht?

Ich denke, wir haben vieles richtig gemacht, aber wir waren – genau wie die meisten anderen Länder – zu einseitig auf die eigene epidemiologische Situation fokussiert und haben dem alles andere untergeordnet. Ein Beispiel: Im Jahr 2020 sind wohl deutlich mehr Menschen aufgrund der durch Coronaschutzmassnahmen mitausgelösten Weltrezession an Hunger gestorben als an Corona selbst. Die Anzahl Menschen, die mit grössten Mangelernährungserscheinungen zu kämpfen haben, hat sich von 135 Millionen Menschen auf 270 Millionen Menschen verdoppelt. Solche Themen finden weder in den Medien noch in der Politik ihren Widerhall. Wir machen uns lieber Sorgen darum, ob unsere Kitas offen bleiben können oder ob im Aargau andere Regeln gelten als in Bern. Ich denke, dass wir langsam beginnen zu lernen, dass Politik gerade in schweren Zeiten nicht darin bestehen kann, so zu tun, als gäbe es keine schwierigen Entscheide zu treffen, und dann den einfachen Weg zu wählen.

In Krisen wird immer auch von den damit verbundenen Chancen gesprochen. Ganz ehrlich: Zurzeit hört sich das sehr stark nach Floskeln an …

Jede Krise reflektiert auch Strukturwandel und beschleunigt ihn sogar. Da gibt es zum Glück auch Gewinner. Viele Veränderungen gehen jetzt schneller, und das wird sich auch in den kommenden Quartalen so fortsetzen. Tatsächlich sollte man erwarten, dass in der ersten Phase des Aufschwungs auch in diesen Bereichen wieder investiert wird. Voraussetzung ist aber, dass wir den Strukturwandel nicht verhindern. Eine Sondersteuer für Gewinner des Strukturwandels macht z. B. überhaupt keinen Sinn.

«JEDE KRISE REFLEKTIERT AUCH STRUKTURWANDEL.»

Etwas konkreter: Welche Chancen bieten sich denn nun der Wirtschaft mittelfristig?

Für die Summe der Unternehmen bleiben wir vorsichtig. Noch mal, wir sind in einer lang anhaltenden Wirtschaftskrise, da geht es vielen Unternehmen und vielen Arbeitnehmern, deren Arbeitsplatz unsicher ist, nicht gut. Aber bei neuen Produkten und Dienstleistungen gibt es haufenweise Chancen. Kreative Zerstörung wird angesagt sein. Substitution von Bestehendem durch Neues. Das ist für uns Unternehmer anstrengend, für manche unter uns eben auch bedrohlich. Aber für unsere Kunden und unsere Gesellschaft ist das sicherlich insgesamt gut.

Interview: Adrian Uhlmann

ZUR PERSON

Klaus Wilhelm Wellershoff ist ein deutscher Ökonom und Unternehmensberater und lebt in der Schweiz. Er war von 1995 bis 1998 Chefökonom beim Schweizerischen Bankverein. Diese Funktion behielt er auch nach der Fusion mit der Schweizerischen Bankgesellschaft zur UBS. Dort war der 56-Jährige von 2003 bis 2009 zusätzlich Mitglied der Geschäftsleitung. Im Jahr 2009 gründete er dann das Beratungsunternehmen Wellershoff & Partners, das er auch leitet.

www.wellershoff.ch

Meist Gelesen