Publiziert am: 16.10.2015

Die Quadratur des Kreises

Tribüne

Auch in der Schlussphase des Wahlkampfs hat die gegenwärtig wohl wichtigste wirtschaftspolitische Frage für unser Land nicht die Aufmerksamkeit genossen, die ihr eigentlich zukommen müsste: Wie wollen wir unsere Beziehungen zur Europäischen Union (EU) inskünftig gestalten, respektive wie wird die Masseneinwanderungsinitiative (MEI) umgesetzt? Gelingt uns die Quadratur des Kreises, indem eine pragmatische Umsetzung der MEI gefunden wird, welche die bilateralen Verträge mit der EU nicht gefährdet? Zwar haben sich mit Ausnahme der SVP alle grossen Parteien unmissverständlich hinter die Bilateralen gestellt, konkrete Ideen, wie man mit pragmatischen und eigenständigen Ansätzen die Zuwanderung eindämmen könnte, fand man aber eigentlich nur bei der FDP.

Wer in den letzten Monaten den Puls der Bevölkerung genommen hat, stellt fest, dass ein Punkt die Zustimmung der grossen Mehrheit findet: Als sehr erfolgreiche und exportorientierte Volkswirtschaft ist die Schweiz auf offene Märkte und gute Beziehungen zu ihrem wichtigsten Handelspartner, der EU, angewiesen. Rund 55 Prozent unserer Exporte gehen in die EU, und beim Zugang zum EU-Markt profitieren wir nicht nur vom Freihandelsabkommen von 1972, sondern ganz wesentlich von den bilateralen Verträgen, insbesondere jenem über den Abbau technischer Handelshemmnisse. Dies gilt für die MEM-Industrie ebenso wie für die Schweizer Pharmabranche, deren Exporte 34 Prozent der Schweizer Ausfuhren ausmachen. Entsprechend setzen sich sowohl Swissmem als auch die wichtigsten Verbände der chemischen und pharmazeutischen Industrie – scienceindustries und Interpharma – mit Nachdruck für das Primat der Bilateralen ein.

Dass keine fremden Inspektoren aus der EU die Qualität der Herstellung in der Schweiz überprüfen und die Chargenfreigabe, d.h. die Qualitätskontrolle für Exporte in die EU, durch die Firmen in der Schweiz vorgenommen werden kann, gehört zu den Errungenschaften der Bilateralen. Ein Wegfall der Bilateralen würde in der Pharmaindustrie zu grossem bürokratischem Aufwand und einem Anstieg der nichtproduktiven Nebenkosten führen. Allerdings würde dies nicht nur die Pharmabranche und andere export­orientierte Firmen treffen, sondern auch Betriebe, die diese mit Vorleistungen beliefern. Um welche Volumina es dabei geht, mag exemplarisch Novartis verdeutlichen: Der Basler Konzern hat 2014 Güter und Dienstleistungen im Wert von 2,6 Milliarden Franken allein bei Schweizer Firmen bezogen – viele davon waren KMU. Wenn also der Handel mit der EU bei einem Wegfall der Bilateralen erschwert würde, hätte dies rasch auch Auswirkungen auf primär binnenorientierte Branchen.

Die Krux ist, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Bilateralen keinesfalls in Frage stellen will – in einer repräsentativen Umfrage, die gfs.bern im Jahr 2015 bei 2500 Stimmberechtigten durchführte, sprachen sich 80 Prozent der Befragten für den Erhalt der Bilateralen aus. Das Unbehagen über das Ausmass der Zuwanderung muss jedoch ebenfalls ernst genommen werden. Rund die Hälfte der Befragten sieht die Zuwanderung als Problem (Arbeitslosigkeit, Lohndruck, teurer Wohnraum etc.). Der Ausgang einer reinen Wiederholung der Abstimmung vom 9. Februar 2014 im Sinne der RASA-Initiative wäre wohl ebenso ungewiss wie die Hoffnung auf Konzessionen der EU bei der Personenfreizügigkeit. Die Quadratur des Kreises braucht einen pragmatischen, eigenständigen und unabhängigen Ansatz für die MEI-Umsetzung. Die Wirtschaft ist gefordert, damit das Versprechen für die Nutzung des inländischen Arbeitskraftpotenzials (Jüngere, Frauen, über 55jährige Arbeitnehmer) nicht nur deklamatorisch bleibt, und die Politik muss nach den Wahlen ein Gesetzespaket schnüren, das konkrete Antworten auf die Sorgen hinsichtlich einer uneingeschränkten Zuwanderung gibt. Stichworte sind unter anderem das Asylwesen, vermeintlicher oder realer Sozialmissbrauch, Familiennachzug, der rasch zu Lasten der Fürsorge geht, und eine Schutzklausel für Ausnahmesituationen.

*Thomas B. Cueni ist Generalsekretär∕Geschäftsführer von Interpharma, des Verbands der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz.

Die Tribüne-Autoren geben ihre eigene Meinung wieder; diese muss sich nicht mit jener des sgv decken.

Meist Gelesen