Publiziert am: 22.11.2019

«Gefährliche Doppelstrategie»

SOZIALPARTNERSCHAFT – Die WAK des Ständerats hat sich für die Motion Baumann ausgesprochen. In der Wintersession kommt sie in den Ständerat. Im Interview erklärt GastroSuisse-Präsident Casimir Platzer, weshalb ein Ja für die Sozialpartnerschaft wichtig ist.

Schweizerische Gewerbezeitung: Eine funktionierende Sozial­partner­schaft trägt wesentlich zum wirtschaftlichen – und auch zum gesellschaftlichen – Wohlergehen der Schweiz bei. Weshalb ist das so, und weshalb sehen Sie die Sozialpartnerschaft heute in Gefahr?

Casimir Platzer: In der Schweiz handeln die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften gemeinsam die Arbeitsbedingungen aus. Diese Sozialpartnerschaft schafft einen fairen Interessenausgleich und garantiert den sozialen Frieden seit über 100 Jahren. Zudem verfügen die Sozialpartner über umfangreiche branchenspezifische Kenntnisse und können die Mindestbedingungen den Besonderheiten der Branchen anpassen. Seit einiger Zeit versuchen die Gewerkschaften jedoch, sozialpartnerschaftlich geregelte Bestimmungen in Gesamt­arbeits­verträgen durch kantonale Regelungen zu übersteuern. Sie handeln mit uns die Arbeitsbedingungen am runden Tisch aus und wollen dann einzelne Vereinbarungen mit gesetzlichen Bestimmungen wieder aufheben. Diese Doppelstrategie ist sehr gefährlich.

Die Sozialpartnerschaft wird durch die Arbeitgeber und Gewerkschaften geprägt. Wie wichtig sind die allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge (ave GAV) für die Arbeitnehmenden?

Die ave GAV regeln das Arbeitsverhältnis umfassend. Sie enthalten unter anderem Bestimmungen zu Arbeitszeit, Freizeit, Löhnen und Lohnersatz. Diese Bestimmungen gelten für alle Unternehmen einer Branche und in der Regel für die ganze Schweiz. Dadurch bieten ave GAV einen umfangreichen und effektiven Arbeitnehmerschutz. Ihre Bedeutung für den Schweizer Arbeitsmarkt nimmt stetig zu. Seit 2001 hat sich die Anzahl der ave GAV mehr als verdoppelt. Immer mehr Arbeitnehmende profitieren von sozialpartnerschaftlich geregelten Arbeitsbedingungen.

Das Bundesgericht hat 2017 einen im Kanton Neuenburg vom Souverän beschlossenen und von den Sozialpartnern und den Behörden festgelegten Mindestlohn geschützt, der vor den Bestimmungen der ave GAV gelten soll. Weshalb erachten Sie diesen Entscheid als störend?

Das Bundesgerichtsurteil stützt eine kantonale Regelung, welche gewisse Bestimmungen in ave GAV aushebelt. Deshalb ist es nun jederzeit möglich, dass arbeitsrechtliche Regelungen der Kantone Bestimmungen in ave GAV aufheben können. Dieses Fehlurteil befeuert die Doppelstrategie der Gewerkschaften. So haben Forderungen nach kantonalen Massnahmen im Bereich des Arbeitsrechts zugenommen. Es geht längst nicht mehr um Mindestlöhne. In mehreren Kantonen wurden Volksinitiativen lanciert oder Vorstösse eingereicht, die eine Elternzeit von mind. 36 Wochen vorsehen. Wenn es so weitergeht, werden Gesamtarbeitsverträge obsolet.

Sie fordern, dass vertraglich vereinbarte Regelungen gegenüber demokratischen Entscheidungen der Kantone Vorrang haben. Weshalb ist dies wichtig?

Einseitige kantonale Regelungen, die einzelne Bestimmungen der ave GAV aufheben, untergraben die Allgemeinverbindlicherklärungen des Bundesrats. Darüber hinaus bringen sie die GAV als komplexe Gesamtpakete aus dem Gleichgewicht. In der Folge werden die Sozialpartner vermehrt auf Gesamtarbeitsverträge verzichten. Dies würde das Ende der Sozialpartnerschaft einläuten. Ausserdem können nur der Bundesrat oder kantonale Regierungen Gesamtarbeitsverträge für allgemeinverbindlich erklären. Folglich sind ave GAV ebenso demokratisch legitimiert.

Sie fürchten also, dass kantonale Regelungen das Ende der Sozialpartnerschaft einleiten könnten, wenn sie Bestimmungen der allgemeinverbindlich erklärten GAV unterlaufen. Ist diese Befürchtung nicht übertrieben?

Auch der Bundesrat teilt diese Befürchtung. Bereits in der Botschaft zur Mindestlohn-Initiative von 2014 stellte er fest, dass ein Mindestlohn die Bereitschaft der Sozialpartner zur Mitwirkung an Verhandlungen senken und die Sozialpartnerschaft gefährden könnte. Auch in seiner Stellungnahme zur Motion von Isidor Baumann äusserte der Bundesrat ähnliche Bedenken.

Inzwischen haben sich diese Befürchtungen bewahrheitet. Die Doppelstrategie der Gewerkschaften hat zu Spannungen innerhalb der Sozialpartnerschaft geführt. So setzt GastroSuisse die Verhandlungen für einen neuen L-GAV solange aus, bis die daran beteiligten Gewerkschaften öffentlich für die Allgemeinverbindlichkeit von Gesamtarbeitsverträgen einstehen. Wenn in ein paar Jahren der grösste Teil der Kantone eigene Mindestlohnregelungen kennt, dann wird die Sozialpartnerschaft an Bedeutung verlieren.

Eine beeindruckende Allianz von 28 Wirtschaftsdachverbänden und Branchenverbänden steht hinter der Motion des Urner CVP-Ständerats Isidor Baumann. Sie will die Sozialpartnerschaft durch eine Anpassung des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen stärken, indem allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge den Bestimmungen der Kantone vorgehen sollen. Weshalb braucht es diese Motion, und warum ist das Anliegen für die Wirtschaft so wichtig?

Es gibt wenige Themen, die in der Wirtschaft so breit abgestützt sind wie die Motion von Isidor Baumann. Der Vorstoss möchte den bewährten Zustand vor dem Bundesgerichtsurteil von 2017 wiederherstellen. Eine Annahme der Motion würde der Doppelstrategie der Gewerkschaften die Grundlage entziehen. Ave GAV können danach nicht mehr durch kantonale Massnahmen ausgehebelt werden. Die Motion würde die Sozialpartnerschaft nachhaltig vor zukünftigen Angriffen schützen.

Wie viele kantonale Regelungen wären von der Annahme der Motion Baumann betroffen?

Heute wäre nur eine Regelung in einem Kanton betroffen. In allen anderen Fällen haben die Kantone die ave GAV von sich aus ausgeklammert. Das zeigt, dass die Motion Baumann auf grosse Akzeptanz stossen würde.

Läuft dieser Vorstoss nicht wider den Föderalismus, indem er die Autonomie der Kantone einschränkt?

Nein, die Motion schränkt die Kompetenzen der Kantone nicht ein. Die Kantone können weiterhin arbeitsrechtliche Massnahmen aus sozialpolitischen Gründen beschliessen. Die Motion sorgt ausschliesslich dafür, dass eine Branche mit einem ave GAV von einer kantonalen Regelung ausgenommen ist, sofern dieser Sachverhalt bereits im ave GAV geregelt ist. Dort, wo sich die Sozialpartner gemeinsam über die Arbeitsbedingungen geeinigt haben, braucht es den Staat nicht. In Branchen mit einem GAV ist der Arbeitnehmerschutz garantiert.

Die Motion Baumann kommt in der Wintersession 2019 in den Ständerat. Welches wären die Folgen einer Ablehnung der Motion?

Die Gewerkschaften werden ihre Doppelstrategie laufend und systematisch ausweiten. Das hat sich seit 2017 bestätigt. Wie die Situation im Gastgewerbe beweist, hat die Doppelstrategie bereits zu Spannungen innerhalb der Sozialpartnerschaft geführt. Auch in anderen Branchen werden vermehrt Spannungen zwischen den Sozialpartnern auftreten. Die GAV-Verhandlungen werden insgesamt schwieriger und öfters ergebnislos bleiben.

Interview: Gerhard Enggist

motion baumann schützt die sozialpartnerschaft

WAK-S und breite Allianz setzen sich für ein Ja ein

Die ständerätliche Wirtschaftskommission (WAK-S) möchte, dass die allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge (ave GAV) den kantonalen Regelungen vorgehen. Sie hat eine entsprechende Motion von CVP-Ständerat Isidor Baumann, «Stärkung der Sozialpartnerschaft bei allgemeinverbindlich erklärten Landes-Gesamtarbeitsverträgen», angenommen. «Die WAK-S hat sich klar zur Sozialpartnerschaft bekannt. Nur ein Vorrang der allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge vor kantonalen Massnahmen schützt die Sozialpartnerschaft nachhaltig vor Angriffen und Partikularinteressen. Nun liegt es am Ständerat, den Entscheid der vorberatenden Kommission zu bestätigen», sagt Casimir Platzer, Präsident von GastroSuisse und Hotelier von Kandersteg (mehr zu seinen Argumenten im Interview auf dieser Seite).

Eine breite Allianz aus 28 Verbänden aller Branchen wirbt mit vereinten Kräften für eine Zustimmung zur Motion Baumann. Unter Führung des Schweizerischen Gewerbeverbands und des Schweizerischen Arbeitgeberverbands haben sich folgende 26 weiteren Verbände dem Aufruf an den Ständerat angeschlossen, die Motion anzunehmen: Allpura, AM Suisse, CallNet.ch, carrosserie suisse, EIT.swiss, feusuisse, GastroSuisse, Gebäudehülle Schweiz, Holzbau Schweiz, HotellerieSuisse, ISOL­SUISSE, Schweizer Fleisch-Fachverband (SFF), Schweizerischer Bäcker-Confiseurmeister-Verband (SBC), Schweizerischer Baumeisterverband (SBV), Schweizerischer Plattenverband (SPV), Schweizerischer Maler- und Gipserunternehmer-Verband (SMGV), Schweizer Netzinfrastrukturverband (SNiv), suissetec, Swiss Catering

Association, Swiss Dental Laboratories, SwissBeton, Swissstaffing, Verband der Tankstellenshop-Betreiber der Schweiz (VTSS), Verband Schweizer Möbelhandel und -industrie (möbelschweiz), Verband Schweizerischer Schreinermeister und Möbelfabrikanten (VSSM) und der Verband Schweizerischer Sicherheitsdienstleistungs-Unternehmen (VSSU).

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