Publiziert am: 17.09.2021

Immense Umverteilungen

AHV – Rund 58 Prozent der gesamten AHV-Einnahmen werden heute von «reich» zu «arm» umverteilt. 95 Prozent der AHV-Rentenbezügerinnen und -bezüger haben ihre Rente nicht allein finanziert, wie Andreas Zeller* und Werner C. Hug* berechnet haben.

Die Umverteilung in der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) ist gewaltig – und weltweit wohl einmalig. Rund 58 Prozent der gesamten AHV-Einnahmen von total 27 Milliarden Franken werden einkommensbezogen von «reich» zu «arm» umverteilt. Hauptprofiteure sind Personen mit mittleren und kleinen Einkommen. 95 Prozent der AHV-Rentenbezügerinnen und -bezüger haben ihre Rente nicht allein finanziert. Solidarität in der AHV ist gewollt. Aber nur schon die Sicherung des bestehenden Leistungsniveaus fordern Bundesrat, Parlament und das Volk heraus.

Unser Drei-Säulen-System wurde ursprünglich systematisch aufgebaut. Die umlagefinanzierte AHV gründet auf Beiträgen der Versicherten und ihren Arbeitgebern, welche die laufenden Ausgaben für die Renten finanzieren. In der beruflichen Vorsorge (BVG, 2. Säule) spart jeder Versicherte mit eigenen Beiträgen, jenen des Arbeitgebers und den Kapitalerträgen für sich selber. Und in der dritten Säule sorgt jeder individuell und freiwillig für seine Altersvorsorge. In jüngster Zeit wird dieses System immer mehr durchlöchert. Insbesondere in der ersten Säule.

Wenige finanzieren ihre Rente selbst

Vor fünf Jahren hat Lalanirina Schnegg vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) mit einem Modell berechnet, dass 92 Prozent der AHV-Renten nicht von den AHV-Beiträgen der Bezüger allein finanziert sind. Nach Rücksprache mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen haben die Autoren mit den Daten der Individuellen Konti der AHV (IK) die nicht mehr rentenbildenden Beiträge von der Einkommensseite her berechnet und sind zum Ergebnis gekommen, dass sogar 95 Prozent der AHV-Renten nicht ausschliesslich mit eigenen Beiträgen finanziert sind. Wäre die AHV rein umlagefinanziert, würden also ausschliesslich die bezahlten AHV-Beiträge die laufenden Renten ­decken, dann wären zur Finanzierung einer monatlichen maximalen Altersrente von 2390 Franken Beitragseinnahmen von 615 000 Franken nötig. Das entspricht einem durchschnittlichen Jahreseinkommen über die gesamte Beitragsdauer von 44 Jahren (bis zum Alter 65) von 163 000 Franken. Durchschnittliche Bruttolöhne von 13 550 Franken oder Nettolöhne von 11 400 beziehen heute gemäss Lohnstrukturstatistik 2018 nur etwa fünf Prozent der Erwerbstätigen. Die Umverteilung hat somit noch deutlicher zugenommen. Darüber hinaus haben die Autoren die folgenden neuen Erkenntnisse erlangt.

Hohe interne Umverteilungen unter den Zivilständen

Innerhalb der AHV bestehen immense Umverteilungen. Je nach Zivilstand (ledig, verheiratet, getrennt, geschieden oder verwitwet) mehr oder weniger ausgeprägt. Bei Verheirateten wird die Rente plafoniert, sobald beide Ehepartner rentenberechtigt sind. Anstatt zwei Einzelrenten von maximal je 2390 Franken erhalten sie insgesamt nur 150 Prozent, also 3585 Franken. Gemäss den Berechnungen der Autoren erzielen verheiratete Ehepaare diesen plafonierten Höchstwert, wenn sie während der gesamten Beitragsdauer je ein durchschnittliches Jahreseinkommen von gut 43 000 Franken erzielen.

Verwitwete Personen im Rentenalter erhalten einen Verwitwetenzuschlag von 20 Prozent. Damit erzielt diese Rentnerkategorie bereits mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von gut 57 000 Franken eine Maximalrente.

Wer Kinder bis zum 16. Altersjahr erzieht, dem wird darüber hinaus eine fiktive und damit beitragslose Erziehungsgutschrift von rund 43 000 Franken pro Jahr gutgeschrieben. Bei Ehepaaren wird dieser Wert hälftig angerechnet. Diese Gutschriften senken das für die Erzielung der maximalen Altersrente erforderliche durchschnittliche Jahreseinkommen weiter. Hinzu kommt die in der AHV angewendete Rentenformel, welche die tiefen und mittleren Einkommen zusätzlich begünstigt.

Werden die AHV-internen Umverteilungen berücksichtigt, wie oben dargelegt, entsteht im gewichteten Durchschnitt aller Zivilstände schon mit einem Einkommen von rund 53 000 Franken eine maximale ­AHV-Rente. Davon profitieren rund 2,7 Millionen Personen oder 57 Prozent aller Lohnbezüger.

Bis anhin ging man davon aus, dass AHV-Beiträge auf einem durchschnittlichen Jahreseinkommen über 86 000 Franken nicht mehr rentenbildend seien. Die Berechnungen der Autoren ergaben, dass dies nur noch für alleinstehende Personen ohne Kinder zutrifft. In allen anderen Fällen liegt dieser Grenzwert tiefer – zum Teil deutlich tiefer. Diese interne Umverteilung ist vom Gesetzgeber so gewollt. Wohl in keinem anderen Land werden Beiträge von Einkommen unbegrenzt erhoben, während die Renten auf ein Maximum begrenzt bleiben. Dass das Ausmass 43 Prozent, also beinahe die Hälfte aller Einnahmen ausmacht, ist doch eher überraschend.

Von «reich» zu «arm»

Zu diesen AHV-internen Umverteilungen kommen auch noch einkommensbezogene Quersubventionierungen durch die vom AHV-Gesetz vorgegebenen Beiträge des Bundes hinzu. Der Anteil des Bundes, finanziert aus Tabak-, Alkohol-, Direkter Bundes- und Mehrwertsteuer sowie Spielbankenabgaben, beläuft sich heute auf 12,4 Milliarden Franken. Das sind rund 27 Prozent der gesamten AHV-Einnahmen. Ein grosser Teil davon (6,94 Milliarden) stammt aus der Direkten Bundessteuer von natürlichen Personen.

In diesem Zusammenhang muss man wissen: 99 Prozent der Einnahmen aus den Direkten Bundessteuern (auch «Reichtumssteuer» genannt) stammen von Personen, die über ein Brutto-Jahreseinkommen von über 60 000 Franken verfügen. Mit anderen Worten: 99 Prozent in die AHV fliessenden Einnahmen (6,9 Milliarden) stammen von «reichen» Steuerzahlern – von Personen, die in der AHV bereits auf Einkommen Beiträge bezahlen, die im gewichteten Durchschnitt aller Zivilstände nicht mehr rentenbildend sind. Diese einkommensbezogene Umverteilung aus externen Quellen entspricht rund 15 Prozent der AHV-Einnahmen. Wird dieser Anteil zu den 43 Prozent der nicht mehr ­rentenbildenden Beiträge hinzugezählt, resultiert eine gesamte ­Umverteilung – AHV-intern und -ex­tern – von 58 Prozent. Die Mehrheit der heutigen Rentenbezüger profitiert somit von diesen enormen, stetig wachsenden Umverteilungen. Die Frage ist deshalb erlaubt: Nähert sich die AHV langsam aber sicher einer staatlich finanzierten Volkspension?

Strukturelle Revision unumgänglich

Soll das Leistungsniveau der AHV erhalten bleiben, steht die Politik vor grossen Herausforderungen. Allein die Besitzstandswahrung und der Erhalt der eingangs umschriebenen Umverteilungseffekte erfordern rasch zusätzliche finanzielle Mittel. Dazu steht die momentan im Parlament diskutierte AHV21-Reform vor der Entscheidung. Unmittelbar nach dieser notwendigen «Mini-Reform» müssen im Rahmen einer strukturellen AHV-Reform mehrere grundsätzliche Fragen beantwortet werden: Können, nicht nur wegen der Gleichberechtigung der Geschlechter und der vorgesehenen neuen Eheformen, die Witwen- und Witwerrenten in der heutigen Form überhaupt noch weitergeführt werden?

Ebenfalls unter rechtlichen und finanziellen Aspekten steht die Plafonierung der Ehepaarrenten zur Debatte. Der Gesetzgeber wird so-mit nicht darum herumkommen, Modelle zur Verlängerung der Beitragsdauer zu suchen, wie es zum Beispiel die Initiative der Jungfreisinnigen vorschlägt. Denn eine Anhebung des Renteneintritts fängt nicht nur die zunehmende Lebenserwartung und das damit verbundene Ausgabenwachstum auf. Nein: Damit wird auch dem Arbeitskräftemangel entgegengewirkt, der sich aufgrund der demografischen Entwicklung (Babyboomer gehen in Pension) bis ins Jahr 2040 noch verschärfen wird. Das sind alles Realitäten und Entwicklungen, die auf grundsätzliche Antworten warten und die in die zentrale Frage münden: Soll die AHV – wie in der 10. AHV-Reform angedacht – in Richtung Individualrente weiterentwickelt werden?

Kein Platz für Träume

Wer angesichts dieser immensen Herausforderungen auch noch eine 13. AHV-Rente mit Mehrausgaben von gegen 4 Milliarden Franken verlangt, wie es eine Volksinitiative der Linken fordert, leugnet die äusserst angespannte Lage der AHV. Die Vielfalt der sich stellenden Probleme und die Anpassungen an die künftigen Veränderungen stellen höchste Anforderungen an den Gesetzgeber und letztlich an das stimmberechtigte Volk.

Parallel dazu müssen auch in der 2. Säule die Reformen an die veränderten Arbeitsmarktkonstellationen und die neue Rollenverteilung zwischen Mann und Frau angepasst werden. Wahrlich eine heroische Aufgabe, die der Gesetzgeber noch vor 2030 erledigen muss. Da bleibt kein Platz für Träumereien.

Andreas Zeller und Werner C. Hug

*  Alt Nationalrat Andreas Zeller war ehemaliger Chef einer AHV-Ausgleichskasse. Werner C. Hug, freier Bundeshausjournalist, ist spezialisiert auf Fragen der sozialen Sicherheit.

SO WIRD GERECHNET

Wer erhält was?

Eine alleinstehende Frau, Mutter zweier Kinder, die heute pensioniert wird, erhält dank der Erziehungsgutschriften bereits mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von rund 66 000 Franken eine Maximalrente von 2390 Franken.

Für ein Ehepaar mit zwei Kindern reicht ein durchschnittliches jährliches Einkommen von 47 000 Franken des Mannes und 22 000 Franken der Frau, um zwei plafonierte Einzelrenten von zusammen 3585 Franken zu erhalten.

Dank des Verwitwetenzuschlags von 20 Prozent erhält eine verwitwete Frau mit einem durchschnittlichen jährlichen Einkommen von gut 57 000 Franken eine maxi­male Altersrente von 2390 Franken.

Wer ein Leben lang den jährlichen Mindestbeitrag von gegenwärtig 413 Franken in die AHV einbezahlt hat, erhält bei Erreichen des Rentenalters eine minimale Altersrente von 1195 Franken.

www.ahv-iv.ch

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