Publiziert am: 05.03.2021

Kein willkürliches Aufweichen

GAV – Die Quoren für die Allgemeinverbindlichkeit eines Gesamtarbeitsvertrags sollen flexibilisiert werden. Was auf den ersten Blick einleuchtet, hat seine Tücken.

Heute kann ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) unter drei Bedingungen vom Bundesrat für allgemeinverbindlich erklärt werden:

• Den unterzeichnenden Arbeitgeberverbänden müssen mindestens 50 Prozent der Arbeitgeber des Wirtschaftszweigs angehören (Arbeitgeberquorum).

• Die unterzeichnenden Arbeitnehmerverbände müssen mindestens 50 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer repräsentieren (Arbeitnehmerquorum).

• Arbeitgeber, die den am GAV beteiligten Arbeitgeberverbänden angehören, müssen mindestens 50 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Wirtschaftszweigs beschäftigen (gemischtes Quorum).

Aufweichen des Quorums

Mit zwei gleichlautenden parlamentarischen Initiativen sollen die Quoren flexibilisiert werden. Wenn die beteiligten Arbeitgeber nicht – wie heute – die Hälfte, aber mindestens 35 Prozent aller Arbeitgeber darstellen, müssen sie mindestens 65 Prozent der Arbeitnehmer beschäftigen. Wenn der Anteil der Arbeitgeber zwischen 35 Prozent und 50 Prozent liegt, verändert sich der erforderliche Anteil der Arbeitnehmer im selben Ausmass und beträgt damit höchstens 65 Prozent und mindestens 50 Prozent. Gegenstand der Allgemeinverbindlicherklärung kann in diesem Fall nur sein, was direkt in Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen steht. Dies sind die minimale Entlohnung und die ihr entsprechende Arbeitszeit, die Vollzugskostenbeiträge, die paritätischen Kontrollen sowie die Sanktionen gegenüber fehlbaren Arbeitgebern und Arbeitnehmern, insbesondere Konventionalstrafen und die Auferlegung von Kontrollkosten.

Einschränkung der Wirtschaftsfreiheit

Was auf den ersten Blick einleuchtend erscheint, hat aber seine Tücken. Grundsätzlich ist mit der Allgemeinverbindlicherklärung eines GAV immer auch eine Einschränkung der Wirtschaftsfreiheit verbunden. Diese wird zwar durch Verfassung und Gesetz legitimiert und soll für alle Unternehmen gleichermassen gelten. Ein Aushöhlen dieser Voraussetzungen hat zur Folge, dass die Betriebe in ihrer Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkt werden und Strukturveränderungen, die für Branchen und Betriebe notwendig sind, um im Wettbewerb bestehen zu können, unterbunden werden.

Willkürlich gewählte Grenzen

Die Grenzen des neuen gemischten Quorums sind willkürlich gewählt. Wieso die Untergrenze gerade bei 35 Prozent festgelegt wird, wird nicht begründet. Tiefere Quoren können ein Einfallstor sein, um über kantonal hochgeschraubte Regulierungen in regionalen/kantonalen GAV den Regulierungsdruck auch auf nationaler Ebene zu erhöhen und die Sozialpartnerschaft zu strapazieren.

Sozialpartnerschaft: Sache von Arbeitgebern und Arbeitnehmern

Mit dem Verzicht auf die klaren Mehrheitsverhältnisse der heute geltenden Quorumsregel wird ein jahrelang gültiges Grundsatzprinzip durchbrochen. Die Befürworter argumentieren damit, dass die Verbreitung von Gesamtarbeitsverträgen schwieriger geworden sei. Es ist die Aufgabe der Sozialpartner, sowohl auf Arbeitgeber- wie auch auf Arbeitnehmerseite dafür zu sorgen, dass entsprechende Mehrheiten für die Allgemeinverbindlichkeit eines GAV erreicht werden.

Keine Majorisierung

Jegliche Senkung der Quoren unter 50 Prozent führt dazu, dass eine Minderheit der Mehrheit die Marktbedingungen diktiert. Die Senkung der Quoren bis zu 35 Prozent kann innerhalb einer Branche insbesondere auf der Arbeitgeberseite zu ­einer Majorisierung einer Mehrheit durch einige wenige führen. Wenn einige wenige grosse Arbeitgebende viele Arbeitnehmende beschäftigen, könnte eine Konstellation entstehen, in der ein Drittel der Arbeitgeber, die GAV-willig sind, zwei Drittel, die das nicht wollen, überstimmen. Eine ­solche Regelung wird den Druck auf bestimmte Branchen, einen GAV abzuschliessen, zwangsläufig erhöhen. Ein solches Diktat einer Minderheit über die Mehrheit verletzt staats- und wirtschaftspolitische Grundsätze.

In vielen Branchen sind gerade kleinere Unternehmen die Innovationstreiber. Noch stärkere Auflagen durch einen GAV können innovationshemmend sein. Aus diesen Gründen sollen die bestehenden Voraussetzungen für die Allgemein­verbindlicherklärung eines GAV nicht aufgeweicht werden.

Dieter Kläy,

Ressortleiter sgv

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