Publiziert am: 22.10.2021

Nach Corona die Sintflut

ZUR UNTEREN SÄGE – Das Restaurant im aargauischen Vordemwald musste unten durch. Nach der Neueröffnung kam Corona und machte Ahmet Tahtaci ein Strich durch die Rechnung. Was der Wirt damals noch nicht wusste: Das Schlimmste stand ihm und seinem Team noch bevor.

«Das ist wirklich nicht normal. Das ist nicht normal.» Ungläubig wiederholt Ahmet Tahtaci (35) dieselben Worte immer und immer wieder. Sie stammen von einem Smartphone-video, welches Tahtaci am 24. Juni 2021 aufgenommen und auf Facebook gepostet hat. Es ist der Tag, an dem sein Restaurant von den Wassermassen des Dorfbachs, der sonst so beschaulichen «Pfaffnern», geflutet wird. «Ich habe heute noch Angst, wenn es regnet», gesteht Tahtaci, der nun aber wieder lachen kann. Am 28. September konnte er die «Sagi», wie das Restaurant von den Dorfbewohnern liebevoll genannt wird, endlich wieder öffnen. Lockdown, Hochwasser, Zertifikats-pflicht – den Start in seine Wirte-karriere hat er sich anders vorgestellt. Den Mut hat er aber nie verloren.

Die klassische Dorfbeiz

Rückblick in den September 2019: Das Dorf Vordemwald/AG sitzt auf dem Trockenen. Kaum zu glauben, waren die Restaurants «Tannenbaum», «Iselishof» und «zur unteren Säge» doch lange Zeit weit über die Region im Südwesten des Aargaus hinaus bekannt. Weil die Zapfhähne im Tannenbaum und Iselishof definitiv versiegt sind, kommt der unteren Säge eine noch grössere Bedeutung zu. Sie ist im Besitz der Ortsbürgergemeinde. Man wollte schnellstmöglich geeignete Pächter finden, die den bisherigen Kurs fortführen. Weder Schnellimbiss noch Haute Cuisine seien in Vordemwald gefragt, sagte der Gemeindeammann damals gegenüber der Regionalzeitung. Viel eher eine Beiz mit gutbürgerlicher Küche, die auch den Dorfvereinen eine Heimat bietet.

Heute, gut zwei Jahre später, lässt sich sagen: Mit Ahmet Tahtaci hat Vordemwald den richtigen Mann für die «Sagi» gefunden.

Vom Regen in die Traufe

«Bis im März 2020 lief es super», erzählt Tahtaci von seinen Anfängen als Wirt. Dann folgte bekanntlich der Lockdown. «Die Ortsbürgergemeinde hat mir sehr geholfen.» Dank Mieterlass und der Kurzarbeitsentschädigung für seine Angestellten kam er gut über die Runden. Das Konzept der gutbürgerlichen Küche hat Tahtaci nie aufgegeben, aber den Umständen angepasst. Für den Hauslieferdienst hat er die Karte sogar mit Pizza und Pasta ergänzt, da sich dies besser zum Liefern eignet. Aber Tahtaci betont: «Ich habe immer die ganze Karte angeboten, denn das ist unser Konzept.» Das kam gut an, es seien deutlich mehr Bestellungen eingegangen als erwartet. Geholfen hätten dabei auch die Flyer, mit denen er Werbung gemacht und seinen Bekanntheitsgrad in der Region gesteigert habe.

Auch wenn der Wirteneuling bis im Sommer 2021 gut durch die Pandemie gekommen ist: Ein bisschen Normalität wäre erwünscht gewesen. Stattdessen folgte dieser verhängnisvolle 24. Juni. Im Nachgang dazu wird man von einem Jahrhunderthochwasser sprechen. «Das war für mich viel schlimmer als Corona», sagt Tahtaci. In den ersten Minuten versucht er sich noch gegen die Wassermassen zur Wehr zu setzen. «Ich habe einen 50-Kilogramm-Mehlsack in einen Abfallsack gepackt und damit die Terrassentüre blockiert.» Als er es so im Nachhinein erzählt, muss er schmunzeln. «Es hat funktioniert! Aber alles andere war zu spät …» Zu gross die Wucht des Wassers, das in kürzester Zeit das ganze Dorf und die Beiz flutete und einen immensen Schaden anrichtete.

Statt nach Corona in den Normalzustand überzugehen, stand Ahmet Tahtaci knietief im Wasser, die Küche zerstört, das Mobiliar weggeschwemmt. Totalschaden.

Wie weiter?

Tahtaci ist nicht einer der grübelt, sondern einer der nach Lösungen sucht. In zweierlei Hinsicht: Mit seiner Frau und drei Kindern wohnt er über dem Restaurant, hat anderthalb Monate kein warmes Wasser. «Ich habe wie früher mein Vater und mein Grossvater Wasser gekocht, um zu duschen.» Er sagt es, als sei es das Normalste der Welt.

Auch für den Restaurantbetrieb hat er eine Idee. Doch in der Küche des alten Restaurant Iselishof konnte er nicht mehr kochen. Das Haus war bereits verkauft, ein grosser Teil der Kücheneinrichtung weg. Dafür schenkte ihm das ehemalige Wirtepaar den Spielplatz. Also fragte Tahtaci kürzlich im Feierabendbier bei den Mitgliedern des Turnvereins an, ob sie ihm helfen würden, den Spielplatz zu zügeln. Wenn der Wirt der Dorfbeiz ruft, dann eilen sie zu Hilfe. Es zeichnet das Dorf und auch «seinen» Wirt aus, zeigt, dass Vordemwald ihn ins Herz geschlossen hat. «Das Dorf ist sehr unterstützend», freut er sich über die Solidarität.

Das Lebensziel

Von der Versicherung wurde ihm angeboten, auf dem Parkplatz einen Container aufzustellen, in dem er kochen könne. «Ich wollte das nicht. Wir bieten eine gutbürgerliche Küche an. Wir sind kein Kebab-Laden, bei uns gibt es kein Fast Food. Wir kochen nicht im Container.» Eine klare Ansage, die nicht allen gepasst habe.

Der Erfolg gibt ihm recht. Die Einführung der erweiterten Zertifikatspflicht sei zwar ein kleiner Schockmoment gewesen. «Ich hatte wirklich Angst. Aber unser Dorf macht mit, viele sind auch geimpft.» Er sei «sehr zufrieden im Moment».

Den Nachschub «im Moment» kann man sehr gut verstehen, wenn man sich die Geschichte der letzten knapp zwei Jahre in Erinnerung ruft. Manch einer hätte wohl aufgegeben. Nicht so Ahmet Tahtaci. «Ich habe nie ans Aufhören gedacht», sagt er, ohne danach gefragt zu werden. «Ein Restaurant zu führen war immer mein Lebensziel!» Die letzten Renovationsarbeiten sollten bis Ende Jahr abgeschlossen sein, der Keller ist immer noch am Trocknen. Als nächstes will er die Gartenterrasse noch etwas ausbauen. Und dann fügt er etwas an, was die «Vorewäuder» sicher gerne hören: «Mein Ziel ist es, hier pensioniert zu werden.»

Adrian Uhlmann

www.zurunterensaege.ch

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