Publiziert am: 18.06.2021

«Oft als Tarnung missbraucht»

CHRISTOPH A. SCHALTEGGER – Der Ökonom und Miterfinder der erfolg­reichen Schuldenbremse sagt, wieso eine Regulierungskostenbremse wichtig ist. Und warum die Messung der Kosten von einer unabhängigen Stelle überprüft werden soll.

Schweizerische Gewerbezeitung: Wie schätzen Sie den Zustand des Wirtschaftsstandorts Schweiz im Sommer 2021 ein?

Christoph Schaltegger: Konjunkturell wird die Wirtschaft nach Überwindung der Pandemie von Nachholeffekten profitieren. Mittelfristig stellt sich die Frage, ob wir strukturell gut aufgestellt sind. Nach meiner Beurteilung konnten wir die traditionellen Stärken der Schweiz weitgehend bewahren. Ein genaueres Hinsehen verrät allerdings schon seit einiger Zeit eine schleichende Erosion klassischer Standortvorteile hin zum Mittelmass. Der Staatseinfluss und Etatismus über ein Gestrüpp von Detailsteuerungen hat generell zugenommen, und der Reformelan ist bei den grossen Herausforderungen wie der AHV-Reform erlahmt.

Generell gefragt: Was macht die Qualität eines Wirtschaftsstandorts überhaupt aus?

Zentral ist der Arbeitsmarkt. Er bringt die Menschen in Brot und Arbeit und stiftet Sinn und Identität. Der Arbeitsmarkt lebt von der Sozialpartnerschaft, von den Sozialversicherungen, von der Arbeitsmarktregulierung, vom Bildungssystem, von der Steuer- und Finanzpolitik. Es geht um die klugen staatlichen Rahmenbedingungen. Kurz: Funktioniert der Staat gut, funktioniert auch der Arbeitsmarkt gut. Dazu gilt es Sorge zu tragen. Wir sehen in einigen europäischen Ländern, welche zersetzenden Kräfte für den gesellschaftlichen Zusammenhalt von dysfunktionalen Arbeitsmärkten ausgehen.

Die Ausgaben- und die Schuldenbremse haben dazu beigetragen, dass die Schweiz bisher einigermassen gut durch die Corona-Krise gekommen ist. Wie würden Sie den konkreten Nutzen der beiden Instrumente in der heutigen Lage beschreiben?

Es ist noch nicht lange her, da überschlugen sich die Vorschläge zur Lockerung der Schuldenbremse für ambitionierte Infrastrukturvorhaben und andere Lieblingsprojekte der Interessenvertreter. Wenn das geliehene Geld schon fast gratis zu haben sei, könne man die Bremse doch ohne Risiko lösen. Das Argument, in guten Zeiten vorzusorgen und eine finanzpolitische Resilienz für schlechte Phasen aufzubauen, schien nur noch etwas für notorische Schwarzmaler.

Zum Glück hat sich die Schweiz gegen diese Verführungen wappnen können. Wir verfügten damit über die notwendige finanzpolitische Glaubwürdigkeit, um die notwendigen Stützungsausgaben zu tätigen. Die Corona-Pandemie und ihre Folgen straft all jene Lügen, die die alte Volksweisheit anscheinend vergessen haben: Spare in der Zeit, so hast du in der Not.

Regeln wie die Schuldenbremse würden von einer «Stabilitäts­kultur» getragen, sagten Sie an dieser Stelle vor gut drei Jahren. Ist diese Kultur durch «Corona» heute in Gefahr?

Trotz der bereits erwähnten Kritik hat der politische Grundkonsens, dass die Schuldenbremse weder gelockert noch umgangen werden soll, in der Schweiz bisher gehalten. Das ist eine gute Nachricht. Die stabilitätsorientierte Tradition verschafft der Regel politische Nachachtung. Die politischen Bemühungen sollten daher in erster Linie auf eine adäquate Anwendung der Schuldenbremse in den Sozialversicherungen gelegt werden, um die Stabilitätskultur effektiv zu stärken.

Sie halten die Amortisation der Corona-Schulden für zwingend. Was erwarten Sie in dieser Frage vom Parlament?

Lassen Sie mich hier präzise sein: Ich bin dafür, dass wir zwingend im Rahmen der Schuldenbremse bleiben. Das heisst, der Schuldenstand von 2003 mit 123 Milliarden Franken Schulden darf nicht überschritten werden. Den Spielraum dafür haben wir uns durch die guten Rechnungsabschlüsse in den letzten Jahren auf dem Ausgleichskonto geschaffen. Aktuell sind auf dem Konto knapp 29 Milliarden Franken verbucht. Diese Summe darf man den ausserordentlichen Schulden gegenrechnen. Will man diesen Spielraum nicht oder nur teilweise nutzen, gilt es, die Schulden im gesetzlichen Rahmen zu amortisieren. Das heisst innerhalb von sechs Jahren, wenn möglich. Man muss sich entscheiden. Die Corona-Schulden einfach zu «vergessen», wäre ein fahrlässiger Regelbruch.

Neben der Ausgaben- und der Schuldenbremse soll es neu auch eine Regulierungsbremse geben. Was kann dieses dritte Element zum Erhalt der Stabilitätskultur beitragen?

Die Regulierungsdichte und damit die Kosten haben in den letzten Jahren tatsächlich stark zugenommen. Würde diese Entwicklung einem allgemeinen gesellschaftlichen Bedürfnis entsprechen, wäre nichts dagegen einzuwenden. Es gibt aber verschiedene Gründe, dies anzuzweifeln. Erstens steigt auch das subjektive Unbehagen in der Bevölkerung gegen allzu detaillierte Eingriffe in die individuelle Lebensgestaltung. Zweitens dient Regulierung nicht selten der Zufriedenstellung partikularer Anspruchsgruppen für deren Umverteilungsanliegen.

Regulierung ist so auch eine gern genutzte und intransparente Tarnung für Subventionen in Form von Marktabschottung. Eine wirksame Regulierungsbremse könnte also nicht nur mehr Transparenz und Kostenbewusstsein schaffen, sondern auch eine Politik für die «vielen» statt die «wenigen» befördern. Das wäre ganz im Sinne einer Stabilitätskultur, die den Blick der Politik auf gesamtgesellschaftliche Probleme ausrichtet und nicht als Spiel von Macht in Interessen der Anspruchsgruppen versteht.

Wie soll die Regulierungsbremse konkret funktionieren, und was soll sie der Schweizer Wirtschaft bringen?

Die Regulierungsbremse erhöht die Hürde für kostenintensive Regulierung und zügelt somit die Regulierungstätigkeit. So bräuchten zukünftig neue Bestimmungen, die eine Mindestanzahl von Unternehmen betreffen oder Regulierungskosten von einem bestimmten Mindestbetrag auslösen, ein qualifiziertes Mehr im Parlament. Die Belastung von Unternehmen durch Regulierung bekommt so zum einen mehr Aufmerksamkeit, und zum anderen wird gegen die steigende Tendenz der Regulierungslast vorgegangen. Für die Schweizer Unternehmen könnte sich dies direkt in weniger bürokratische Aufgaben und niedrigere Fixkosten übersetzen lassen.

Warum sind Sie zuversichtlich, dass die Regulierungsbremse funktionieren wird?

Es braucht politischen Willen, um gemeinsam daran zu arbeiten, neue Regulierung möglichst effizient auszugestalten. Angesichts des Trends der zunehmenden Regulierungstätigkeit ist der Handlungsbedarf offenkundig. Die Regulierungsbremse trifft den Zeitgeist.

Die Regulierungsbremse sieht vor, dass sie durch ein qualitatives Mehr im Parlament übersteuert werden kann. Wieso ist dieser Mechanismus wichtig?

Jede Regel braucht eine Ausnahmeklausel für unvorhersehbare Ereignisse. Dies ist aus zwei Aspekten wichtig: Erstens, weil damit die Kriterien für Ausnahmen vorher definiert werden können. Das schafft Rechtssicherheit. Zweitens kann damit auch der Weg aufgezeigt werden, wie man aus dem Ausnahmezustand wieder in das Regelwerk kommt. Ohne Ausnahmebestimmung besteht die Gefahr, dass Regeln in schwierigen Zeiten einfach nicht mehr angewendet werden.

Anders als bei der Ausgaben- und der Schuldenbremse wird bei den Regulierungskosten gefordert, dass deren Messung von einer externen, verwaltungsunabhän­gigen Stelle überprüft wird. Was bringt eine solche Überprüfung?

Eine Grundvoraussetzung für eine effiziente Regulierungsbremse ist Transparenz über die Regulierungskosten. Die Erfassung dieser Kosten ist ein komplizierter Prozess. Es müssen neben den direkten Kosten für Unternehmen auch indirekte Kosten sowie eben auch der Nutzen beachtet werden. Da Regulierungsbremsen auch Fehlanreize setzen können, ist es wichtig, hier strategische und politische Beeinflussung zu vermeiden. Es darf nicht darum gehen, die direkten Kosten zu senken, aber dafür ineffizientere Regulierung zu schaffen. Dafür braucht es eine verlässliche Identifikation der Regulierungskosten. Am besten durch eine Stelle, die mit grosser politischer Unabhängigkeit ausgestattet ist.

Interview: Gerhard Enggist

vgl. auch Seite 7

ZUR PERSON

Christoph A. Schaltegger (49) ist Professor für Politische Ökonomie an der Universität Luzern und Gründungsdekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Er ist zudem Direktor am Institut für Finanzwissenschaften und Finanzrecht (IFF) der Universität St. Gallen. Christoph Schaltegger war Mitglied der Expertengruppe Schuldenbremse des Bundesrats.

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