Publiziert am: 19.11.2021

Sensibilisieren, statt regulieren

ARBEITSMARKT – Zum sechsten und letzten Mal hat vergangenen Montag die Nationale Konferenz «Ältere Arbeitnehmende» stattgefunden. Die Vertreter von Bund, Kantonen und Sozialpartnern sind sich weiterhin einig darin, dass ältere Arbeitnehmende einen wichtigen Beitrag zur Deckung der wachsenden Fachkräftenachfrage in der Schweiz leisten.

Klein- und Mittelbetriebe sind soziale Arbeitgeber. Die Bereitschaft der KMU, ältere Mitarbeitende zu beschäftigen und einzustellen, ist hoch. Das zeigt sich auch daran, dass das mittlere Alter der Angestellten von KMU rund 50 Jahre beträgt und markant über dem Durchschnittsalter der Mitarbeitenden von Grossunternehmen liegt.

Von rund gegen 600 000 KMU sind ca. 530 000 Mikrobetriebe und haben 10 oder weniger Mitarbeitende. KMU-Inhaberinnen und -Inhaber haben grossmehrheitlich eine positive Einstellung zu einer längeren Beschäftigung, da mit jedem personellen Wechsel immer wieder Wissen und Erfahrung verloren gehen, was vor allem für Mikrobetriebe eine Herausforderung ist.

Regulierungen hätten einen gegenteiligen Effekt

Der Schweizerische Gewerbeverband sgv hat in den vergangenen Jahren immer an den Nationalen Konferenzen «Ältere Arbeitnehmende» teilgenommen aus der Überzeugung heraus, dass es sich lohnt, Sensibilisierungsarbeit zu leisten. Über die sgv-Medien (Gewerbezeitung und FOKUS KMU) ist die Situation der älteren Arbeitnehmenden permanent und öffentlich breit wahrnehmbar thematisiert worden.

Neben der Botschaft, dass ältere Arbeitnehmende wertvolle Arbeitskräfte sind, hat der sgv auch immer die Botschaft vermittelt, dass der Arbeitsmarkt nicht zum Schutz von über 50-Jährigen reguliert werden darf. Regulierungen wie Kündigungsschutz und andere Massnahmen hätten erstens einen gegenteiligen Effekt: Die Bereitschaft würde sinken, über 50-Jährige einzustellen im Wissen, dass man sie nicht mehr entlassen könnte. Zweitens hätten solche Massnahmen auch eine stigmatisierende Wirkung. Und genau das gilt es zu verhindern. Ältere Arbeitnehmende dürfen nicht stigmatisiert werden (vgl. Kasten).

Zahlreiche Branchenorganisationen engagieren sich zugunsten der älteren Arbeitnehmenden. Dabei ist zu beachten, dass die Situation in den einzelnen Branchen sehr unterschiedlich sein kann. Erwähnenswert ist die Brückenfunktion der privaten Stellenvermittler und Verleihfirmen. Sie haben eine grosse Bedeutung. Über den Personalverleih kann auch das Potenzial der über 50-Jährigen noch besser ausgeschöpft werden. Personalverleihfirmen integrieren über die Temporärarbeit Tausende in das Erwerbsleben. Für einen Stellensuchenden, egal ob jung oder älter, hat die Verleiharbeit somit eine wichtige Brückenbauerfunktion.

Babyboomer gehen in Pension

Das Engagement zugunsten der älteren Arbeitnehmenden geschieht nicht zuletzt auch aus eigenem Interesse. Die Branchen benötigen verlässliche und erfahrene Mitarbeitende, die auf einem aktuellen Wissensstand sind. Die Babyboomer werden pensioniert. In den nächsten Jahren werden mehr Arbeitskräfte den Arbeitsmarkt verlassen als neu dazukommen. Der Mangel an Fachkräften wird zunehmen. Die Arbeitgeber investieren im eigenen Interesse in die Ausbildung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Die in den letzten Jahren getroffenen Massnahmen hat der sgv unterstützt, insbesondere die Finanzierung von Weiterbildung (Grundkompetenzen am Arbeitsplatz), das Projekt «Berufsabschluss und Berufswechsel für Erwachsene», die kostenlose Standortbestimmung, Potenzialabklärung und Laufbahnberatung für Erwachsene ab 40 Jahre und die Anrechnung des Berufsabschlusses für Erwachsene, aber auch weitere Massnahmen.

Notwendig sind in erster Linie Massnahmen, die dem Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit der älteren Arbeitnehmenden dienen. Ältere Arbeitnehmende haben primär dann Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, wenn sie Mehrfachdefizite aufweisen. Folglich muss bei der Qualifizierung angesetzt werden. Lebenslanges Lernen bildet die Grundlage für eine aktive Laufbahnplanung. Dazu braucht es die Motivation und die Bereitschaft der Betroffenen, sich weiterzubilden und ihre Berufskenntnisse laufend à jour zu halten. Standortbestimmungen und Weiterbildungs- oder Umschulungsmassnahmen sind in erster Linie Angelegenheiten, die zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geregelt werden müssen.

Dieter Kläy, Ressortleiter sgv

FOKUS KMU-Beiträge zum Thema ältere Arbeitnehmende:

NACHGEFRAGT BEI DANIEL NEUGART

«Die Realität sieht anders aus»

Keine Stigmatisierung von älteren Arbeitnehmenden – dies ist seit Jahren ihre eindringlichste Forderung. Wo stehen wir heute diesbezüglich?

Daniel Neugart: Wir unterscheiden zwischen Fremd- und Selbststigmatisierung. Seit Jahren wird in allen Medien über die Diskriminierung von älteren Arbeitnehmenden und Stellensuchenden berichtet. Positive Meldungen und Erfolgsgeschichten sind hingegen kaum zu finden. Die Realität sieht aber anders aus. Ältere Arbeitnehmende und Stellensuchende werden zunehmend nachgefragt, denn schon heute verabschieden sich mehr erfahrene Fachkräfte in die Rente, als neue junge Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt eintreten. Der Personalmarkt trocknet zunehmend aus, was auch mit ausländischen, billigeren Fachkräften nicht mehr so einfach kompensiert werden kann, denn die umliegenden Länder stehen vor den gleichen Herausforderungen. Innovative Unternehmen erkennen zunehmend wie wertvoll die Erfahrungskompetenz von älteren Arbeitnehmenden auch in Zukunft sein wird und versuchen, diese mit neuen Arbeitsmodellen und Bildungsangeboten möglichst lange im Arbeitsmarkt zu halten. Zudem werden immer mehr Pensionierte beworben und motiviert, wenigstens teilweise weiterhin dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Stigmatisierung beginnt im Kopf und ist die Vorstufe zur Diskriminierung. Wir stehen an einem Wendepunkt.

Die Babyboomer werden in den nächsten Jahren pensioniert. Welche Auswirkungen hat das auf den Arbeitsmarkt und die älteren Arbeitnehmer?

Die Babyboomer müssen sich heute entscheiden, ob sie eine Karriere als «Fachrentner» lancieren wollen. Die meisten sind bei Rentenantritt noch topfit und haben im Durchschnitt noch mindestens 20 Lebensjahre vor sich. Zudem werden viele länger arbeiten müssen, weil ganz einfach das Geld nicht ausreicht. Hinzu kommt ein gefährlicher Trend, den wir seit Längerem beobachten: Wir nennen ihn «Tschau, bis später!». Ältere Mitarbeiter werden in die Frühpensionierung geschickt, um sie nach einem halben Jahr extern und auf Abruf für Projektarbeiten wieder einzusetzen. Wertvolle spezifische Fachkompetenzen werden so wieder zum Discountpreis in einen Betrieb implementiert, ohne ein Unternehmerrisiko tragen zu müssen. Das ist ein sozialpolitischer Sprengstoff und eine breite Autobahn zu «Working poor» und Alters­armut. Es darf nicht sein, dass Rentner zur Konkurrenz werden für ältere Arbeitnehmende und Stellensuchende, die noch bis zur Rente im Arbeitsmarkt bleiben müssen und wollen. Zu diesem Neuzeit-Phänomen besteht dringender Handlungsbedarf.

Wie lautet Ihre Bilanz zu den Nationalen Konferenzen für ältere Arbeitnehmende?

Wenn die jährlichen Konferenzen, zu denen wir jeweils im Vorfeld als Experten und Stimme der Betroffenen eingeladen wurden, tatsächlich nicht weitergeführt werden, dann ist das eine schallende Ohrfeige an die betroffenen älteren Stellensuchenden. Denn mehr als ein sehr bescheidener Anfang kann das nicht gewesen sein. Wir stehen kurz vor einem demografischen Tsunami in einem Ausmass, wie es die industrielle Welt noch nie gesehen hat. Dass man jetzt mal abwarten will, was für eine Wirkung die in diesem Kontext bisher erarbeiteten Massnahmen haben werden, ist schlicht naiv und verantwortungslos.

Dann stellt sich nach dem Aus der Konferenz die Frage: wie weiter?

Das Ende dieser Konferenzen kann nur bedeuten, dass es Platz für einen neuen Anfang gibt, der konstruktiver, zielführender und vor allem sofort wirksam aufgebaut werden muss. Die Meinungen, Ansichten und Bedürfnisse aus der Sicht der Betroffenen müssen über Interessenvertretungen, wie unsere Organisation es eine ist, stärker eingebunden werden. Auch Integrationsfirmen und andere Institutionen, die tagtäglich mit der älteren Generation im Arbeitsmarkt den persönlichen Kontakt pflegen, müssen stärker involviert werden. Diesen runden Tisch ersatzlos zu streichen ist deshalb absolut inakzeptabel. Es braucht eine konkrete Anschlusslösung auf einem höheren Level.

Daniel Neugart ist Präsident undGeschäftsführer des Schweizerischen Arbeitnehmerverbandes 50Plus (SAVE 50Plus Schweiz).

www.save50plus.ch

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