Publiziert am: 12.12.2014

Vom Luxus, das Leben voll zu geniessen

TribĂĽne

M ein Grossonkel Frank war Baron und diente in seinen Jugendjahren Kaiser Franz Josef. Mit seiner Frau Margot, einer quirligen und bis ins hohe Alter flammend rothaarigen Schaffhauserin – meiner Grosstante – galten sie als eines der Traumpaare der Wiener Aristokratie. Denn das attraktive Duo strahlte Energie und Tatkraft aus, die sie später vor manch schlimmer Lebenssituation bewahrten. In den Endvierzigerjahren hatten sie wie alle anderen nichts mehr – ausser einen verlorenen Krieg und ihre ungebremste Lebensfreude.

U nverdrossen schickten sie sich in das karge Nachkriegsleben, und mit Innovationsgeist, Menschenkenntnis und Grosszügigkeit gelang es ihnen, im viergeteilten Wien gut zu überleben. Sie kompensierten die harte tägliche Arbeit mit langen nächtlichen Festen und Feiern, an denen es laut und fröhlich zuging und die oft von Operettenarien begleitet wurden: Onkel Frank war ein hervorragender Sänger. Ich erinnere mich an Reihen von leeren Weinflaschen, die morgens in der Küche standen. An den verqualmten Salon. An die verschwundenen Würste und Speckseiten. An ein Leben, das heute fast nicht mehr denkbar ist.

J a, die diversen Präventionskampagnen, welche der Staat seit Jahrzehnten lanciert, haben in unseren Köpfen Fuss gefasst, wenn diese Metapher erlaubt ist. Mit ungutem Gefühl fahre ich mit dem Auto in die Stadt: Man nimmt doch heute den öV in Anspruch! Aufs Dessert verzichtet man meistens – und wenn frau einmal nicht widerstehen kann, dann meint sie, sich rechtfertigen zu müssen, und verspricht sich und den verständnisvoll nickenden Anwesenden eine zusätzliche Trainingseinheit. Schliesslich will frau ja nicht als asozial gelten, weil sie übergewichtig und nicht im Besitz eines Fitness-Abonnements ist.

Rolltreppen und Lifte benützen wir verschämt. Ein zweites Glas Wein, ein Schnäpschen, einen Liqueur: Nur mit schlechtem Gewissen. So, so, heute noch keine zwei Liter Wasser getrunken? Wie steht es mit den fünf verschiedenen Sorten von Früchten und Gemüsen, die wir täglich einzunehmen haben? Schon fühlt man sich schuldig, dass man noch Fleisch isst: Die armen Tiere, der CO2-Ausstoss, die verschwendete Wassermenge sind Komponenten, die regelmässig in Publikationen aller Art auf das Gemüt des Konsumenten drücken.

E  cht hip ist sowieso nur, wer auf vegane Ernährung umgestellt hat; und unsere Grossverteiler haben diesen Trend natürlich schon längst erkannt und ihr Sortiment entsprechend erweitert. Am Flughafen und auch andernorts sind Raucher in Glaskästen zu sehen: «Wie im Zoo!», staunt mein Bub. Oder sie schlottern in der kalten Jahreszeit vor den Eingängen diverser Etablissements.

J a, wir, die Konsumenten, spüren diese moralische Keule, den Drohfinger, ständig. «Gute Arbeit!», möchte man da denjenigen zurufen, die so sehr um unsere Gesundheit besorgt sind. Doch frage ich mich, ob es nun nicht bald genug ist mit Vorschriften, Empfehlungen und vor allem immer neuen Gesetzen, die dem Wohl der Bevölkerung dienen sollen. Wo bleibt die Selbstverantwortung? Wo bleibt das Verständnis, dass doch jeder nach seiner Façon glücklich werden soll? Ich plädiere für mehr Genuss im Alltag. Sich über etwas freuen und es auch geniessen können, das ist für das Wohlbefinden genauso förderlich wie alles Wissen, was man zu tun und zu lassen habe, um dereinst in hohem Alter pumperlg´sund (wie Onkel Frank gesagt hätte) zu sterben. Prost!

*Babette Sigg ist Präsidentin des Konsumentenforums kf, der einzigen liberalen Konsumentenorganisation.

 

Die TribĂĽne-Autoren geben ihre eigene Meinung wieder; diese muss sich nicht mit jener des sgv decken.

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