Publiziert am: 18.03.2016

Wer besitzt hier Macht?

Buchkritik – Mit seinem Buch «Macht.ch; Geld und Macht in der Schweiz» erklärt der Soziologe Ueli Mäder den Schweizern die Wirklichkeit – jene, die man sieht, und jene, die verborgen bleibt.

Das Buch «Macht.ch; Geld und Macht in der Schweiz» – ein Gemeinschaftswerk Mäders mit seinem Team – besteht aus zwei Teilen. Im ersten geht es um eine Annäherung an das Gefüge der Macht. Neben den methodischen Vorbemerkungen werden hier viele Aspekte behandelt: Finanzplatz, Realwirtschaft, Gewerkschaften und Gewerbe unter anderem. Der zweite Teil ist eine Sammlung von Fallstudien, die den ersten veranschaulichen: «Bankenstaat», Glencore, «die Macht des ökonomischen Denkens» und letztlich auch der Schweizerische Gewerbeverband sgv sind eigenständige Kapitel darin.

Spannender, persönlicher – 
aber fehlleitend?

Das Buch hat grosse Stärken und ist lesenswert. Mäder und sein Autorenteam haben sich für ein weniger wissenschaftliches Vorgehen und eine weniger akademische Sprache entschieden. Sie zogen durchs Land, beobachteten, schrieben es nieder – auch in der Ich-Form – und kümmerten sich vor allem um Indivi­duen. Die sogenannten Machtstrukturen der Schweiz werden durch die Brillen einzelner Individuen gesehen. Das macht alles viel spannender – und persönlicher.

Doch diese Methode hat eigentümliche Fallen. Und in diese Fallen sind Mäder & Co. hineingefallen. Nicht alles, was Individuen empfinden, entspricht auch der Realität. Und nicht alles, was die Autoren verstanden zu haben meinen, stimmt auch. Gerade von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erwartet man eine kritische Reflexion des Materials, das untersucht wird. Stattdessen werden oft aus einzelnen Empfindungen Zusammenhänge konstruiert, die beinahe Verschwörungstheorien gleichkommen.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Fallstudie zur «Macht des ökonomischen Denkens». Da wird viel über die Mont Pelerin Society MPS, einen Club für prononciert-liberale Ökonomen, gesprochen. Die MPS wird im Buch als eine geheime Schattenmacht dargestellt, die anscheinend die Welt regiert. Regieren bedeutet konkret: freie Wechselkurse durchboxen und der Finanzindustrie dienen. Dumm nur: Die Realität ist ganz anders. Tatsache ist, dass sich einzelne Mitglieder der MPS ein Leben lang für flexible Wechselkurse eingesetzt und sogar einzelne Staaten beraten haben. Aber die MPS als solche hat keine Doktrin. Wie auch? Als ein Club von Liberalen muss sie damit leben, dass die Mitglieder eigene (stolze) Meinungen haben. Und die Meinungen sind widersprüchlich. Die allerbittersten Gegner der freien Wechselkurse waren auch Mitglieder – sogar Gründer – der MPS.

«Nicht alles, was Individuen empfinden, entspricht auch der Realität.»

Noch etwas fällt zudem auf. Wenn die MPS tatsächlich so mächtig wäre, wäre dann die (westliche) Welt nicht liberaler?

Mäder und Gesellschaft brauchen freilich das Wort «liberal» nicht. Sie folgen der linken Diktion und benützen «neoliberal», ohne je zu definieren, was dies eigentlich heisst. Das ist das andere grosse Problem.

Vage Terminologien

Die Autorinnen und Autoren bleiben gerne vage in der Terminologie und in ihrer konkreten Vorgehensweise. Statt Begriffe klar abzugrenzen, verbleiben sie bei Schlagwörtern. Statt eines klaren Fokus bevorzugen sie die unklare Vermischung von Institutionen. Das beste Beispiel ist der sgv selbst – der im Übrigen auch als neoliberal taxiert wird.

Während die Fallstudie über den sgv überaus korrekt und objektiv ausfällt, ist das Kapitel zu «Gewerbe und Gewerkschaften» sehr obskur. Zum Teil wird tatsächlich vom sgv gesprochen, dann aber wird vom Organ des Basel-Städtischen Gewerbeverbands «KMU-News» gesprochen, als ob es ein Organ des sgv wäre. Warum? Man weiss es nicht so genau. Von der Gewerbezeitung steht im Buch kein Wort.

Die Strategie der Vagheit wird aber konsequent weiterverfolgt: Die Unterstützung der Bilateralen durch den (Stadtbaslerischen oder Schweizerischen – das weiss man nicht so genau) Gewerbeverband erfolge aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen, nicht ethischer Grundsätze. Sagt das Buch. Worauf sich dieses Urteil stützt, weiss man nicht so genau. Nach der Lektüre von Mäders Buch weiss man nicht so genau, wofür der sgv steht. Das hat System, denn die Autoren wollen genau dieses Bild aufbauen: Gewerbe und Gewerkschaft hätten laut ihm eigentlich die gleichen Interessen, doch der Gewerbeverband wolle das nicht wahrhaben.

Fazit: Eine linke Thesenschrift

Ja, das Buch erklärt nicht nur, sondern wagt viele Thesen. Dass die meisten unbegründet bleiben, stellt höchstens die Wissenschaftlichkeit der Autoren in Frage. Brisant sind die Thesen aber in ihrem Inhalt: Um mit den vorhandenen Machtstrukturen zu brechen und die Macht zu verteilen, geizen die Autoren nicht mit Sympathie für die Vollgeldinitiative, für ein bedingungsloses Grundeinkommen oder für die Konzernverantwortungsinitiative.

Gesamturteil? Eine unsorgfältig recherchierte, interessante, lesenswerte und prononciert linke Thesenschrift.

Henrique Schneider,

Ressortleiter sgv

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