Publiziert am: 10.08.2018

Über das Privileg, in der Schweiz zu leben

Die Tribüne-Autoren geben ihre eigene Meinung wieder; diese muss sich nicht mit jener des sgv decken.

Wir stecken mitten in der Sommerzeit, was auch Ferienzeit – Auszeit – Reisezeit bedeutet. Gelegenheit auch, 
allenfalls die Perspektive zu wechseln und sich einen 
Aufenthalt im Ausland zu gönnen. So können wir unser Land wieder einmal von aussen begutachten. Ferien sind nicht nur erholsam, sondern in Bezug auf das Privileg, in der Schweiz zu leben, erst noch heilsam.

Als Schweizer vergisst man dies nur allzu oft und allzu schnell. Viel lieber, als sich dieses Privilegs bewusst zu sein, ärgern wir uns über alles Mögliche: zum Beispiel über das Altpapier, das wir gesammelt und umweltbewusst zur Abholung aufs Trottoir gestellt haben. Es wird dann aber einsam am Strassenrand zurückgelassen. Das passiert 
immer dann, wenn es nicht ganz vorschriftsgemäss gebündelt wird. Auch Bussenzettel flattern schon mal ins Haus, bevor das Auto überhaupt zu Hause in der Garage parkiert werden konnte. Was kostet es uns Nerven, wie verwünschen wir alle anderen Automobilisten, wenn wir einmal zehn Minuten im Stau stecken! Vielleicht haben Sie auch schon sage und schreibe fünf Minuten auf einen verspäteten Zug gewartet. Mit Sicherheit haben Sie dabei im Sekundenrhythmus auf ihre Uhr geschaut. Regelmässig für eher betrübliche Stimmung sorgt auch die Steuerrechnung. Sie fällt einfach immer zu hoch aus. X Beispiele könnte ich hier noch anfügen. Sie könnten mich sicher problemlos mit ebenso vielen Exempeln ergänzen. Viel schwieriger wäre es wohl, mit der gleichen Spontaneität und Schnelligkeit aufzuzählen, wo und wie wir denn überall ein privile­giertes Leben führen dürfen.

Eine für mich sehr prägende Reise durfte ich vor genau zwei Jahren antreten. Mit einer Entwicklungshilfeorganisation verbrachte ich zehn Tage in Afrika. Wir reisten in den Senegal, ins kleine Dorf Touba Cocky. Dort halfen wir den Einheimischen bei der Fertigstellung eines Getreide­speichers. Die Hirseernte sollte fortan vor Feuchtig­keit, Nässe oder natürlichen Feinden geschützt aufbewahrt werden können. Man wollte so genügend zu essen für den Winter zur Verfügung stellen können.

«ERST IM AUSLAND
REALISIERT MAN, WIE GUT ES UNS IN DER SCHWEIZ GEHT.»

Andrea Gmür-Schönenberger*

Wir arbeiteten bei extremen Temperaturen von täglich 30 bis 35 Grad Celsius im Schatten. Der Schweiss lief ununterbrochen. Einfache sanitarische Anlagen wurden nur für uns überhaupt erstellt. Für 20 bis 30 Leute standen zwei 
Duschen zur Verfügung. Mit shampooniertem Kopf starrte ich auf die Brause: kein Wasser mehr! Auch die beiden notdürftigen Toiletten befanden sich praktisch täglich während Stunden ausser Betrieb. Das Abflussrohr war zwar in einem eleganten «S» angelegt worden. Dadurch war aber die 
Verstopfung vorprogrammiert. Fliessendes Wasser und Elektrizität gab es nicht.

Dafür wurden wir einmal von einem nächtlichen Gewitter heimgesucht. Der Regen plätscherte munter durch das 
Hüttendach und durchnässte auch unsere bettenähnlichen Pritschen. Die Unterkunft teilte ich mit Tida, einer Afrikanerin. Tidas Nachtlager erwischte es bedeutend schlimmer als meines. Auf meine Frage, wo sie denn jetzt schlafen würde, antwortete sie: «Nur die eine Hälfte meines Bettes ist nass. Ich lege mich auf die andere Seite.» Ihre Logik war bestechend einfach und überzeugte mich. Ich schluckte dreimal leer und tat es ihr gleich. Das Positive am Regen in der Hütte lag darin, dass ein Leguan so aus unserer 
Hütte vertrieben wurde. Dafür aber gab’s einen anderen, von mir ungern gesehenen Gast: eine Kröte. Diese jagte ich 
kurzerhand, packte sie und entliess sie in sicherer Distanz zu meinem temporären Zuhause in die Freiheit.

Erst als Schweizer im Ausland realisiert man oft wieder, wie gut es uns doch geht, wie hervorragend bei uns alles funktioniert und wie hoch unser Lebensstandard ist. Duschen funktionieren, Dächer rinnen nicht. Reptilien gibt’s bei uns im Zoo und nicht in der Wohnung. Wenn wir auch hin und wieder im Stau stecken, so nie stundenlang. Wenn auch unsere Züge hie und da Verspätung haben – sie fahren. Und Bussengelder zahlt man auch im Ausland. In Euro und Dollar tut’s uns momentan ein bisschen weniger weh. Vielleicht dauert es auch einfach ein bisschen länger, bis die Rechnung überhaupt den Weg in unseren Briefkasten gefunden hat… Ja, und die Steuerrechnung: Unser perfektes System ist beim besten Willen nicht ganz gratis zu haben.

In diesen zehn Tagen wurde mir wieder einmal schlagartig bewusst, wie unglaublich privilegiert wir in unserem Land doch sind, welche einzigartigen Leistungen auch unsere KMU erbringen, die alle über Notfallnummern verfügen, rund um die Uhr erreichbar und sofort zur Stelle sind. Dass sie einen Schaden auch häufig zu nächtlicher Stunde reparieren, ist für sie eine Selbstverständlichkeit. Für Ihren Einsatz sei an dieser Stelle wieder einmal gebührend gedankt!

*Die Luzerner CVP-Nationalrätin Andrea Gmür-Schönenberger ist u. a. Mitglied der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats.

www.andrea-gmuer.ch

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