Publiziert am: 16.02.2024

Ein Lob auf die Erheblichkeit

KARTELLGESETZ – Im Wettbewerbsrecht kennt die Schweiz eine Missbrauchsgesetzgebung. Das bedeutet: Abreden sind erlaubt, ausser wenn sie sich schädlich auswirken. Doch das Prinzip wird von der Justiz seit Jahren missachtet.

Der Schweizer Gesetzgeber hat schon des Öfteren klipp und klar festgehalten: Abreden zwischen Unternehmen sind erlaubt. So will es die Verfassung, und so will es das Kartellgesetz. Der Grund ist einfach: Unternehmerische Kooperation belebt den Wettbewerb. Durch sie können Unternehmen günstiger entwickeln oder einkaufen, Ressourcen rationeller nutzen und auch die Vielfalt des Angebots garantieren.

Selbst Preis-, Mengen-, und Gebietsabreden können vernünftig sein. Sie machen es möglich, dass KMU die Grossunternehmen konkurrenzieren. Sie sichern Qualität. Sie können sogar Arbeits- und Ausbildungsplätze bewahren. Natürlich: Wenn sie zum Zwecke der puren Abzocke gebildet werden, sind sie schädlich – und damit verboten. Denn das Gesetz sagt klar: Wenn die Wettbewerbsbehörden die Schädlichkeit feststellen, sind diese Kartelle zu büssen.

Erheblichkeit und BMW

Das juristische Wort für die Einzelfallanalyse ist die Erheblichkeit. Das Gesetz verlangt nämlich von den Wettbewerbsbehörden, dass sie den Kartellen nachgehen, die den Wettbewerb erheblich schaden. Das bedeutet, die Behörden müssen die schädliche Marktauswirkung der Absprache in jedem einzelnen Fall aufzeigen – in quantitativer und qualitativer Weise.

Das darf auch nicht verwundern. Wettbewerbsrecht ist Recht. Also geht es in der Rechtsanwendung um ein Streben nach Gerechtigkeit in jedem einzelnen Fall. Zur Erinnerung: Der Fall BMW, der spektakulärste Wettbewerbsfall der Schweiz bisher, wurde von der Wettbewerbsbehörde genauso – also mit Erheblichkeitsnachweis – behandelt.

Praxisänderung und Willkür

Doch es kam zu einer Praxisänderung. Das Bundesverwaltungsgericht erfand die sogenannte Per-se-Erheblichkeit. In einigen Fällen sei die Wettbewerbsbeeinträchtigung automatisch anzunehmen. Ohne Nachweis. Ohne Analyse des Einzelfalls. Mit dieser Fiktion der St. Galler Richter wurde Tür und Tor für eine institutionalisierte Behördenwillkür geöffnet. Es reicht heute aus, in die Fänge der Wettbewerbsbehörden zu gelangen und schon werden Unternehmen – vor allem KMU – verurteilt.

Diese Gerichtserfindung ist höchst problematisch. Erstens widerspricht sie direkt der Bundesverfassung. Diese kennt kein Abspracheverbot. Zweitens ist die richterliche Fiktion nie Gegenstand eines Gesetzgebungsverfahrens und damit des Referendumsrechts gewesen. Drittens ist sie weit entfernt vom Streben nach Gerechtigkeit, dem Ideal des Rechtsstaates. Viertens ist sie eine faktische Umkehr der Beweislast. Und fünftens schliesslich ist sie konsumenten- und wirtschaftsfeindlich.

Behördenwillkür eindämmen

Das Parlament ist dabei, diesen Missstand zu korrigieren. In der anstehenden Revision des Kartellgesetzes wird der Erheblichkeitsnachweis präzisiert. Die Wettbewerbsbehörden sollen ihn immer erbringen müssen. Damit müssen sie im Einzelfall zeigen, wie stark der Wettbewerb geschädigt war.

Noch hat sich die Gerechtigkeit nicht durchgesetzt. Die Wirtschaftskommission des Ständerates debattiert diese Präzisierung noch. Gerade für die KMU ist die Eindämmung der Behördenwillkür dringend notwendig. Der Rechtsstaat muss wieder hergestellt werden.

Henrique Schneider

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