Publiziert am: 05.10.2018

«Es geht um Fairness»

SOZIALDETEKTIVE – Der Missbrauch der Sozialversicherungen muss gestoppt werden: Die Aargauer CVP-Nationalrätin Ruth Humbel setzt sich für die Annahme des Observationsgesetzes ein, über das am 25. November abgestimmt wird.

Schweizerische Gewerbezeitung: Das Parlament hat in kurzer Zeit ein Gesetz gegen Sozialmissbrauch aufgegleist. Was war der Anlass für diese Eile?

Ruth Humbel: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Herbst 2016 festgestellt, dass im Schweizer Sozial­versicherungsrecht die gesetzliche Grundlage für Observationen fehlt. In der Folge haben die IV-Stellen, die Suva sowie die Taggeldversicherer Observationen eingestellt. Damit sie wieder durchgeführt werden können, braucht es dieses Gesetz.

 

Weshalb braucht es überhaupt ein Gesetz, das die Überwachung potenzieller Fälle von Sozialmissbrauch regelt?

Wenn Sozialmissbrauch konsequent bekämpft werden soll, müssen die Versicherer effektive Mittel dazu haben. Wir schaffen nun eine klare gesetzliche Grundlage, wann eine Observation möglich ist, welche Anforderungen Detektive erfüllen müssen, was erlaubt ist und wie Observationen transparent gemacht werden müssen. Das neue Gesetz schränkt die bis 2017 bewährte Praxis ein. Für den Einsatz technischer Mittel braucht es neu eine richterliche Genehmigung.

 

Wie gross schätzen Sie den Schaden ein, der den Sozialversicherern – und letztendlich auch den Versicherten – jährlich durch erschlichene Leistungen entsteht?

In den letzten Jahren konnten die Sozialversicherungen durch Observationen durchschnittlich insgesamt rund 80 Millionen Franken pro Jahr einsparen: private Unfallversicherer 24 Millionen, die Suva 6 Millionen und die IV 50 Millionen Franken.

 

Welchen Nutzen bringt das Gesetz den «normalen» Versicherten, denen das Erschleichen von Sozialleistungen nie in den Sinn käme?

Gerade zum Schutz der Menschen, welche auf eine Rente angewiesen sind, braucht es griffige Instrumente zur Aufdeckung von unrechtmässigem Bezug von Geld­leistungen. Eine konsequente Ahndung von Missbrauch schützt vor Generalverdacht und Stigmatisierung. Wer Missbrauch schützt, tut Menschen mit Behinderungen sowie den IV/UV-Rentnerinnen und Rentnern keinen Gefallen.

 

Wie oft bestätigt sich der Verdacht, dass Sozialleistungen erschlichen worden sind?

Im Jahr 2016 bezogen 230 300 Personen eine IV-Rente. Bei 1950 Fällen wurde von den IV-Stellen ein Verfahren wegen Versicherungsmissbrauch abgeschlossen. Von diesen 1950 Fällen wurde bei 270 Personen eine Observation durchgeführt. Die Zahlen zeigen, dass das Mittel der Observation sehr gezielt und zurückhaltend eingesetzt wird.

 

Was dürfen denn nun die Sozialdetektive – und was dürfen sie nicht tun?

Die Sozialdetektive dürfen vom öffentlichen Raum aus Bild- und Tonaufnahmen machen. Es dürfen nur Vorgänge erfasst werden, welche jeder Nachbar und jede Spaziergängerin ebenso hören oder sehen kann.

In privaten Innenräumen haben Detektive nichts zu suchen.

Gegen das Gesetz wurde das Referendum ergriffen. Die Gegner fürchten, dass ganze Teile der Bevölkerung unter Generalverdacht gestellt werden. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?

Diese Behauptung ist absurd und entbehrt jeder Grundlage. Zwischen 2009 und 2017 haben die IV-Stellen – gestützt auf die 5. IV-Revision – Observationen mit grosser Zurückhaltung durchgeführt und nur dank der Observation Versicherungs­missbrauch aufdecken können. Die Möglichkeit, Missbrauch wirksam zu bekämpfen, hat eine präventive Wirkung und schützt vor Generalverdacht.

 

Weiter wird geargwöhnt, dass die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger gefährdet sei, sollte das Gesetz angenommen werden. Was halten Sie von dieser Befürchtung?

Auch ein Foto von der Strasse in den Garten kann als Eingriff in die Privatsphäre qualifiziert werden. Aber er liegt im öffentlichen Interesse, wenn Versicherungs­missbrauch nur dadurch aufgedeckt werden kann.

 

Gibt nicht die Tatsache, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz in der Sache gerügt hat, den Gegnern in gewisser Weise recht?

Nein, der EGMR erachtet Observationen im gesetzlichen Rahmen als zulässig. Er hat einzig bemängelt, dass im Schweizer Sozialversicherungsrecht eine gesetzliche Grundlage für Observation fehlt.

 

Glauben Sie daran, dass sich hartgesottene Betrüger durch ein Gesetz daran hindern lassen, ihre Vorteile ohne Rücksicht auf andere zu suchen? Anders gefragt: Hat ein solcher Gesetzesartikel auch eine gewisse präventive Wirkung auf potentielle Versicherungsbetrüger?

Ich bin sicher, dass das Gesetz präventive Wirkung hat. Aber kein Gesetz kann jegliche kriminelle Energie unterbinden.

 

Zu den Befürwortern des Geset­zes gehören linke Politgrössen wie Rudolf Strahm, und auch linke Stadtregierungen wie Zürich oder Basel greifen im Bereich Sozial­hilfe auf Observationen zurück. Welche Chancen geben Sie der Vorlage am 25. November?

Ich gehe davon aus, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Sozialmissbrauch nicht tolerieren und das Gesetz annehmen werden. Es geht letztlich um Fairness in den Sozialversicherungen. Sozialmissbrauch gefährdet die Solidarität.

 

Was passiert, wenn die Vorlage scheitern sollte?

Das würde bedeuten, dass den IV-Stellen und den Taggeldversicherern ein wirksames Instrument für das Aufdecken von Versicherungsmissbrauch fehlt. Wenn Versicherungsmissbrauch nicht wirksam bekämpft werden kann, geraten früher oder später alle IV-Rentnerinnen und Rentner unter Generalverdacht. Das will ich verhindern.

Interview: Gerhard Enggist

ZUR PERSON

Ruth Humbel (61) ist seit 2003 Aargauer CVP-Nationalrätin. Die Birmens­torferin ist Mitglied der Kommission für soziale Sicherung und Gesundheit (SGK).

www.ruthhumbel.ch

Hintergrund

Der Fall der Coiffeuse

Auslöser für die Anpassung des Schweizer Sozialversicherungsrechts, über die am 25. November abgestimmt wird, ist der Fall einer Coiffeuse, die 1995 nach einem Unfall arbeitsunfähig war und Versicherungsleistungen bezog. Mittels Observation konnte nachgewiesen werden, dass die Verunfallte Leistungen zu Unrecht eingefordert hatte. Das Bundesgericht entschied im Jahr 2010 zugunsten des Unfallversicherers – und zwar unter Berücksichtigung der Observationsergebnisse. Die Verunfallte zog den Fall weiter: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte in seinem Urteil vom 18. Oktober 2016 fest, dass in der Schweiz die gesetzliche Grundlage im Sozial­versicherungs­recht für eine Observation ungenügend sei. Der Missbrauch selbst wurde nicht infrage gestellt. Nicht infrage gestellt wurde auch, dass für die Sozialversicherungen die Überwachung von Versicherten bei Missbrauchs­verdacht ein legitimes Mittel ist. Denn auch auf europäischer Ebene ist klar: Sozialversicherungen müssen sich gegen Versicherungsmissbrauch schützen können.

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