Schweizerische Gewerbezeitung: Soeben ist die erste Session zu Ende gegangen, die Sie als Nationalratspräsident geleitet haben. Welches ist Ihre prägendste Erinnerung aus den vergangenen drei Wochen?
Ruedi Lustenberger: Mein gutes Wahlergebnis hat mich gefreut; ich spüre eine gute Akzeptanz im Rat. Meine Kolleginnen und Kollegen machten es mir nicht schwer, die Debatten waren zwar kontrovers, wurden aber stets korrekt geführt. Ich habe mir auch nicht die Illusion gemacht, dass ich den Geräuschpegel im Saal von einem Tag auf den anderen würde senken können. Mit «meiner» ersten Session bin ich unter allen Titeln zufrieden. Zu den Highlights gehörten die Wahlfeier für Bundespräsident Didier Burkhalter in Neuenburg sowie die Präsidentenfeier im Kanton Luzern. Und dass der Voranschlag 2014 um gut 150 Millionen verbessert wurde, stört mich auch nicht (lacht).
«DANK DEs DUALEN BERUFSBILDUNGSSYSTEMs STEHT DIE SCHWEIZ IM INTERNATIONALEN VERGLEICH SO GUT DA.»
Wann ist Ihr Interesse an der Politik erwacht? Gab es einen konkreten Auslöser?
Mein Vater war politisch interessiert, und so bekam ich die Politik schon am Familientisch mit, bevor ich überhaupt die Schule besuchte. 1956 – da war ich sechsjährig – hörte ich am Radio und sah in der Zeitung, wie die Russen in Budapest einmarschierten. Ich erinnere mich an Bilder von Panzern, Maschinengewehren und einer verängstigten Bevölkerung. Und ich hatte Angst, dass nun Krieg ausbrechen und Vater zum Kriegsdienst gerufen würde. So wurde ich als Sechsjähriger politisiert. In der 3. und 4. Klasse las ich Bücher über Schweizer Geschichte, und später diskutierte ich mit meinem Lehrmeister und dessen Frau am Mittagstisch nicht nur über Sport, sondern auch über Politik. So hat mich die Politik eigentlich schon immer begleitet.
2014 wird das «Jahr der Berufsbildung». Schon in Ihrer Antrittsrede haben Sie das duale Berufsbildungssystem erwähnt und die Lehrzeit als «Lebensschule» bezeichnet. Wieso ist Ihnen das Thema so wichtig?
Ich durfte unser Berufsbildungssystem gleich mehrfach direkt erleben: Als Lehrling, später als Lehrmeister von insgesamt 25 Lehrlingen und schliesslich als langjähriger nebenamtlicher Gewerbeschullehrer. Aufgrund dieser Erfahrungen kann ich den Stellenwert unseres dualen Berufsbildungssystems abschätzen und demzufolge als Politiker aus der Praxis heraus argumentieren. Ich kann mir kein besseres System als das unsrige vorstellen und kämpfe für dessen Erhalt und Weiterentwicklung. Dass die Schweiz wirtschaftlich, aber auch gesellschaftlich im internationalen Vergleich so gut dasteht, verdanken wir zu einem grossen Teil dem dualen Berufsbildungssystem.
Am kommenden Mittwoch, 
15. Januar, werden Sie die 
65. Gewerbliche Winterkonferenz in Klosters mit Ihrer Anwesenheit beehren. Welche Message bringen Sie ans «WEF des Gewerbes»?
Das verrate ich an dieser Stelle nicht, schliesslich sollen die Leute ja nach Klosters kommen. Immerhin soviel: Natürlich wird die Berufsbildung ein wichtiges Element meiner Rede sein; zudem werde ich mich zum Verhältnis zwischen KMU-Unternehmertum und Staat äussern.
«ES IST WELTWEIT EINZIGARTIG, DASS JEMAND PARLAMENTSPRÄSIDENT WIRD, DER EINE ‹STIFTI› GEMACHT HAT.»
Was bedeutet es, dass nun ein echter Gewerbler als «höchster Schweizer» amtiert?
Ich beziehe das nicht auf meine Person, sondern auf das Amt: Es ist weltweit wohl einzigartig, dass die Schweiz das Parlamentspräsidium jemandem überträgt, der eine «Stifti» gemacht hat, der Lehrmeister und Unternehmer war, aber nie im Hörsaal in den Genuss von schönen Theorien gekommen ist. Diese Tatsache spricht viel mehr für das politische System unseres Landes als für mich als Person – und zu diesem hervorragenden System müssen wir Sorge tragen!
In Ihrer Antrittsrede haben Sie die unterschiedlichen Interessen der städtischen und der ländlichen Schweiz erwähnt. Weshalb bereitet Ihnen dies Sorgen?
Vor 500 Jahren – auf diese Zeit bezog ich mich in meiner Rede – waren die Interessensunterschiede noch viel grösser als heute. Die damalige Dominanz der Städte über die Landschaft gibt es heute faktisch nicht mehr; das ist eine grosse Errungenschaft. Trotzdem muss ich feststellen, dass die gesellschaftliche wie auch die siedlungspolitische Entwicklung dazu geführt hat, dass der ländliche Raum durch die Städte und Agglomerationen majorisiert zu werden droht. Wir müssen uns bemühen, das gegenseitige Verständnis für die Probleme der Agglomerationen einerseits und jene des ländlichen Raums anderseits zu fördern. «Die Einheit in der Vielfalt»: Diese Haltung hat die Schweiz stark gemacht, und zu diesem Erfolgsrezept müssen wir Sorge tragen. Wir Schweizer sind ein Volk von Minderheiten – gegenseitiges Verständnis ist für alle unverzichtbar.
Dieses Verständnis kommt auch in der Energie- und Umweltpolitik oft zu kurz. Warum engagieren Sie sich als tief bürgerlicher und eher konservativer Parlamentarier in diesem Bereich so stark?
Eine alte Indianerweisheit besagt: «Wir haben die Erde nicht in unserem Besitz, sondern von unseren Grosskindern zu Lehen.» Daran halte ich mich. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir mit unseren endlichen, nicht erneuerbaren Ressourcen künftig sorgfältiger umgehen müssen, als wir dies in den vergangenen Jahrzehnten getan haben. Darum scheue ich mich auch nicht, in diesen Fragen etwas progressiver aufzutreten als dies in den Gremien des sgv üblicherweise der Fall ist.
Wie stellen Sie sich die Schweiz der Zukunft vor?
Wir müssen jene Rezepte, die sich seit der Gründung des Bundesstaates 1848 bewährt haben, weiterentwickeln. Veränderungen sollen, wenn wir sie machen, zu einer Verbesserung der Zustände in unserem Land führen – ansonsten lassen wir es besser bleiben.
Sie sind auch Präsident von «Swiss Label», der Gesellschaft zur Promotion von Schweizer Produkten und Dienstleistungen, die mit der Armbrust wirbt. Welche Bedeutung hat dieses uralte Symbol heute?
Als Jäger und Schütze habe ich ein ungezwungenes Verhältnis zu Waffen. Als Waffe des legendären Wilhelm Tell – er selber ist ja eine Symbolfigur – ist die Armbrust seit jeher ein Markenzeichen. Swiss Label nutzt dies geschickt, indem wir die Armbrust als Symbol einsetzen für Schweizer Qualität, die mitten ins Ziel trifft: Seriös, beständig, sozial und ökologisch verantwortlich produziert – bodenständig und langlebig.
Als CVP-Vertreter unterstreichen Sie immer wieder die Funktion der Familie. Was bedeutet «Familie» für Sie persönlich?
Ich war selber nie ein expliziter Familienpolitiker. Dennoch stelle ich fest, dass der Stellenwert der Familie in der jüngeren Vergangenheit gerne unterschätzt worden ist. Heute erlebt die Familie in Gesellschaft und Staat eine Renaissance, und dies begrüsse ich. Es liegt im ureigenen Interesse des Staates und der Gesellschaft, die Familie als deren erste und wichtigste Zelle zu fördern. Dies nicht in erster Linie nur durch eine monetäre Unterstützung, sondern durch die Wertschätzung für das Vermitteln unverzichtbarer Werte, wie sie in den Familien – in all ihren unterschiedlichen Formen und Modellen – gelebt werden.
«DER LÄNDLICHE RAUM DROHT DURCH DIE STÄDTE MAJORISIERT ZU WERDEN.»
Bis vor zwei Jahren fĂĽhrten Sie eine Schreinerei. Was macht einen erfolgreichen Unternehmer aus?
Zusammen mit meiner Frau habe ich während 37 Jahren eine Schreinerei mit drei Facharbeitern und jeweils zwei Lehrlingen geführt.
Nicht alle Leute eignen sich dazu, Unternehmer zu sein. Man muss in gewisser Weise dazu geboren und bereit sein, mehr als der Durchschnitt zu leisten. Es müssen Risikobereitschaft und viel Durchhaltewillen vorhanden sein. In den Familienunternehmungen sind es häufig die Partnerinnen, welche mit ihrem grossen Einsatz den Erfolg erst ermöglichen. Das soll an dieser Stelle in aller Dankbarkeit einmal erwähnt sein. Und schliesslich brauchts – wie überall im Leben – halt auch das Quäntchen Glück, damit einem Unternehmen Erfolg beschieden ist.
Sie stehen am Anfang eines sehr arbeitsintensiven Jahres. Wie werden Sie sich erholen?
Seit gut zehn Jahren fahren meine Frau und ich hin und wieder für eine Woche weg, zum Ausspannen, Wandern, Auftanken. In der Natur können wir jene Gespräche führen, die einen zeitlichen Aufschub zugelassen haben; dabei kann ich mich vom politischen Alltag lösen. Zudem wohne ich im schönen Napfgebiet, an einem Ort also, wo andere Ferien machen. Und schliesslich bin ich wie gesagt Jäger und oft frühmorgens oder am Abend nach Sonnenuntergang draussen. Auf dem Hochsitz, am Ansitz am Waldrand oder auf der Pirsch tanke ich neue Energie und werfe alten Ballast ab. Seit 30 Jahren ist die Jagd meine Passion – ein Privileg, auf das ich auch während meines Jahres als Nationalratspräsident nicht verzichten muss.
Interview: Gerhard Enggist