Publiziert am: 09.12.2022

Nahrhafter Analphabetismus

NUTRI-SCORE – Einmal mehr beglückt der Bundesrat die Schweiz mit Präventivmassnahmen, welche der Schweizerische Gewerbeverband ablehnt. Das Beispiel des Vergleichs von Apfelsaft und verdünnter Schorle zeigt auf, wie absurd diese neue Regulierung ist, wie wenig sie uns im Alltag tatsächlich bringen wird – und wie viel zusätzliche Bürokratie für KMU.

Der Bundesrat hat vor Wochenfrist beschlossen, ab 2023 mit einer Informationskampagne die Bevölkerung für den Nutri-Score zu «sensibilisieren» und seine Anwendung zu erklären. Der Nutri-Score sei eine streng wissenschaftliche Bewertung, um sich besser zu ernähren. So steht auf dem erläuternden Faltblatt zum Nutri-Score, das vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV erstellt wurde, geschrieben, dass das Label «den schnellen Vergleich ähnlicher Produkte erleichtert, um die gesündeste Wahl zu treffen». Es steht sogar geschrieben, dass die «Punktzahl mithilfe einer wissenschaftlich validierten Formel ermittelt wird, die berücksichtigt, welche Elemente gefördert und welche reduziert werden sollen». Ist das tatsächlich so?

A gibts nur fĂĽr Wasser

Nehmen wir also ähnliche Lebensmittel, die das Nutri-Score-Label tragen, um zu testen, ob das, was die Behörden vorbringen, schlüssig ist. Es gibt zwei besonders nahe liegende Produkte, die dafür in Frage kommen könnten. Natürlicher Apfelsaft zum Beispiel erhält mit 190 Kilojoule pro Deziliter ein gelbes C auf der Nutri-Score-Skala. Dabei gilt es zu beachten, dass in der berühmten wissenschaftlichen Bewertung Wasser das einzige Getränk ist, das ein grünes A erhält, d. h. es gilt als sehr gut.

Wenn nun aber Apfelsaft mit Wasser im Verhältnis 60/40 gemischt wird, ergibt das ein Getränk mit bloss 114 Kilojoule pro Deziliter. Es ist also weniger Energie vorhanden, da dem Apfelsaft Wasser zugesetzt wurde, das dann 60 Prozent der Energie des natürlichen Apfelsafts ausmacht. Konkret handelt es sich bei diesem Beispiel um das als Schorle bekannte Getränk, bei dem kohlensäurehaltiges Wasser mit natürlichem Apfelsaft gemischt wird. Der Nutri-Score von Schorle erhält nun aber – entgegen jeglicher Erwartung – ein orangefarbenes D und scheint daher weniger ausgewogen zu sein als unverdünnte Säfte wie eben der Apfelsaft. Stellt sich also die Frage: Wie kann es sein, dass mit Wasser verdünnte Säfte schlechter bewertet werden als unverdünnte Säfte? Das BLV lässt dies offen.

Wo bleibt die Kohärenz?

Der wissenschaftliche Aspekt des Siegels scheint nicht mehr wirklich kohärent zu sein. Das Lebensmittel- und Veterinäramt hat jedoch deutlich gemacht, dass der Nutri-Score einen einfachen Vergleich ähnlicher Produkte ermöglichen würde, um die gesundheitsförderndste Wahl zu treffen. Der Nutri-Score scheint also seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden.

Derartige Einschränkungen belasten einmal mehr die KMU, die sich langsam von der Begeisterung der grossen Einzelhändler für diese Art von vereinfachender Geschicklichkeit in den Sog gezogen fühlen. Diese Art von Nutrition Literacy für Menschen, die süchtig nach Junkfood sind, erweitert das Problem der schlechten Ernährung lediglich um echte Probleme mit zusätzlichen administrativen Belastungen für KMU.

Neue Probleme fĂĽr KMU

Der Schweizerische Gewerbeverband sgv lehnt den Nutri-Score ab und ruft die staatlichen Behörden dazu auf, ihren Eifer zu zügeln, inkohärente Vereinfachungen durchsetzen zu wollen, wie das Beispiel Schorle zeigt. Im Gegensatz zu seinem klar erklärten Ziel bietet der Nutri-Score den Herstellern überhaupt keinen Anreiz, die Rezepturen von Erfrischungsgetränken im Sinne einer Zuckerreduktion anzupassen. Selbst Neuformulierungen mit einer Zuckerreduktion von 50 Prozent führen nicht zu einer Verbesserung auf der Nutri-Score-Skala.

Das System funktioniert so, dass ein Erfrischungsgetränk mit mehr als Null Gramm Zucker ein C erhält, auch wenn der Zuckergehalt nur 0,1 Gramm pro Deziliter beträgt. Dieser Punkt sollte von den staatlichen Behörden weiter erläutert werden.

All dies bleibt sehr esoterisch. Der sgv ist weiterhin der Meinung, dass die Verbraucher erwachsene Menschen sind, die frei entscheiden können, und dass dies keine konkrete Abhilfe gegen die Probleme der Fettleibigkeit schaffen wird. Die staatlichen Behörden schieben die Schuld für das ungesunde Verhalten einiger Verbraucher lediglich auf die Hersteller.

Mikael Huber, Ressortleiter sgv

www.awmp.ch

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