Publiziert am: 20.01.2023

Föderalismus: Risiko und Chance

DIGITALISIERUNG – Vor allem im Gesundheitswesen hinkt die Schweiz bei der Digitalisierung hinterher. Der Föderalismus gilt als einer der Gründe für diese Feststellung. Doch der Föderalismus – ein zentrales Element des Erfolgsmodells Schweiz – kann auch dazu dienen, dass das System dereinst weniger anfällig sein wird.

Im Mai 2017 betonte der Chef des Eidgenössischen Departements des Innern, der auch für das Gesundheitswesen in der Schweiz zuständig ist: «Die Schweiz muss die Debatte über die Digitalisierung des Gesundheitswesens beschleunigen.» Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, die Debatte dauert an – und die Digitalisierung lässt immer noch auf sich warten.

Ein Vergleich des Digitalisierungsstands von 17 verschiedenen Gesundheitssystemen zeigt, dass die Schweiz trotz all der salbungsvollen Worte von Gesundheitsminister Alain Berset noch immer auf den hinteren Plätzen rangiert. Immerhin: Die Schweizer Behörden können sich noch rühmen, dass sie besser dastehen als Frankreich, Deutschland und Polen.

Im Land der Faxe

Der Vergleich zeigt, dass die Schweiz zwar über die Digitalisierung des Gesundheitswesens diskutiert, die Bereitschaft zur Digitalisierung jedoch nach wie vor sehr gering ist. Obwohl sich das Land damit brüstet, Innovationsmeister zu sein und die höchste Pro-Kopf-Rate an Doktoren oder Patenten zu haben, sagt dies nichts über die digitale Kompetenz aus. Jeder erinnert sich an die unsägliche «Faxerei», die vom Bundesamt für Gesundheit während der Covid-19-Krise angewandt worden war, und die viele im besten Fall zum Schmunzeln gebracht hat … Das Scheitern der Abstimmung über die eID am 7. März 2021 überraschte vor diesem Hintergrund umso weniger.

Wer zahlt, befiehlt

Welche Gründe werden für diesen digitalen Rückstand im Land des Innovationsmeisters angeführt? Es wird mit dem Finger auf die politische Konstellation der Schweiz gezeigt; sie führe zu einer weiteren Schwierigkeit bei der Umsetzung einer effektiven Digitalisierung. Tatsächlich scheint es, dass der – an sich gesunde – Föderalismus im vorliegenden Fall ein Hindernis für die Realisierung eines umfassenden und integrierten Systems zur Digitalisierung des Gesundheitssystems darstellt. Da jeder Kanton seine eigenen technologischen Fortschritte macht, findet sich die Schweiz in einer Vielzahl von Initiativen wieder, die sich oft nur schwer miteinander vereinbaren lassen, da jeder das Vorrecht auf sein technologisches System behalten möchte. Der Grundsatz «Wer zahlt, bestimmt» trifft hier voll und ganz zu.

So gings bei der Eisenbahn

Die digitale Transformation kennt ihre eigenen Herausforderungen, welche die Lage im helvetischen Föderalismus sicherlich komplexer machen. Um die Situation besser zu verstehen, ist es aufschlussreich, die Digitalisierung mit einer anderen Technologie zu vergleichen, die in einem Netzwerk funktioniert: der Eisenbahn. In der Schweiz dauerte es bis zur Gründung der Schweizerischen Bundesbahnen SBB im Jahr 1902, bis endlich der Anspruch erhoben wurde, einen echten Effizienzgewinn für die Gesamtheit der Nutzer des bis dahin stark segmentierten Eisenbahnnetzes zu erreichen.

Anfällige Schnittstellen

Vor diesem Hintergrund fordern Fachleute heute die staatlichen Behörden auf, an ihrer Interoperabilität zu arbeiten. Die Sache hat jedoch einen Haken – nicht nur im Verkehrs-, sondern auch im Gesundheitswesen: Da Transfers zwischen Verkehrs- respektive eben Gesundheitsunternehmen zu offensichtlichen Komplikationen führen können, da die Dienstleistungen nicht unbedingt vollständig integriert sind, stellt die Vervielfachung der Schnittstellen ein Problem hinsichtlich der Sicherheit des gesamten Systems dar. Je mehr Schnittstellen es gibt, desto weniger sicher und widerstandsfähig ist das System gegen Cyberangriffe.

Nur scheinbarer Widerspruch

Sollte man deshalb bei der digitalen Transformation des Gesundheitssystems auf eine vollständige Integration drängen und dabei den Preis, eine schrittweise Aufgabe unserer föderalen Strukturen, in Kauf nehmen? Der Schweizerische Gewerbeverband sgv spricht sich klar für den Föderalismus aus – und gleichzeitig für einen grossen Schritt bei der digitalen Transformation in unserem Gesundheitssystem. Wie kann also kompatibel gemacht werden, was sich scheinbar widerspricht?

Letztendlich muss man bedenken, dass die digitale Transformation erst am Anfang steht und die Schweiz hier noch zu den Schlusslichtern zählt. Das bedeutet, dass sich die Fortschritte im technologischen Bereich noch vervielfachen werden – aber eben auch, dass die Schweiz von anderen lernen muss, um nicht dieselben Fehler zu wiederholen.

Die Cybersicherheit muss noch weiter ausgebaut werden, um die digitale Entwicklung unserer föderalen Gesundheitsstrukturen zu unterstützen. Sie sollte sogar zu einem Vorteil für die Widerstandsfähigkeit der Schweiz werden, da durch die Vielzahl der Systeme nicht das Ganze, sondern nur Teile davon blockiert werden können. Entsprechend sollte die Digitalisierung des Gesundheitssystems einstweilen vor allem darin bestehen, die allzu zahlreichen Verfahren zwischen den verschiedenen Akteuren zu vereinfachen und zu automatisieren. Auf dass der Fax bald der Vergangenheit angehöre.

Mikael Huber, Ressortleiter sgv

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