Publiziert am: 07.06.2024

Es zählt nicht nur der Marktzugang

Der Schweizerische Gewerbeverband unterstützt das vom Bundesrat beschlossene Vorgehen in Sachen Verhandlungsmandat für ein institutionelles Abkommen mit der EU. Das liess er am 8. März die Medien wissen. Die Begründung: Der sgv habe den Marktzugang zur EU im Grundsatz stets unterstützt und erwarte, dass auch künftig der hindernisfreie Zugang zum EU-Binnenmarkt sichergestellt werde.

Das ist nur allzu verständlich, denn das Gewerbe kann von einem freien Marktzugang in vielfältiger Weise profitieren. Die Begründung ist also triftig – aber ist es auch die Zustimmung zum Vertragswerk? Was gerne vergessen geht: In diesem Vertrag geht es um weit mehr als den freien Marktzugang. Es geht um eine weitgehende Harmonisierung der Politik mit der EU. Ein oft verharmloster Aspekt: der Ausbau der Personenfreizügigkeit mit der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL). Die Schweiz soll diese mindestens schrittweise übernehmen.

Eine der vier Freiheiten, die Unionsbürger geniessen, ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Dazu gehört das Recht der EU-Arbeitnehmer, sich innerhalb der EU frei zu bewegen und niederzulassen. Diese Niederlassungsfreiheit wurde 2004 angepasst, und geht weiter als das aktuell gültige bilaterale Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU, das 1999 unterzeichnet wurde und seit 2002 in Kraft ist. Die vollständige oder teilweise Übernahme der UBRL würde also einer vertieften Integration in den EU-Binnenmarkt im Bereich der Personenfreizügigkeit gleichkommen. Was wären die Folgen?

Der Ausbau der Freizügigkeit hat zunächst Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Dabei ist das Arbeitsmarktprofil der Zuwanderer entscheidend: Ist es komplementär zu den Qualifikationen im Inland, oder steht es in direkter Konkurrenz? Wer Konkurrenz erhält, muss mit Lohndruck rechnen, die ergänzenden Fähigkeiten stärken dagegen die eigene Position auf dem Arbeitsmarkt. Der Abbau von Migrationshürden verursacht auf dem inländischen Arbeitsmarkt also Gewinner und Verlierer. Menschen mit spezifischem Fachwissen werden eher gewinnen. Auf der Verliererseite stehen dagegen vor allem einfache Tätigkeiten. Bei gering- und unqualifizierter Zuwanderung kommt es dort zu Konkurrenzverhältnissen, und damit zu Lohndruck im Tieflohnsegment.

Verhindert nun diePolitik Lohnanpassungen durch flankierende Massnahmen, wie es die Gewerkschaften fordern, setzt sie in der Wirkung einen Mindestlohn. Der Mindestlohn verhindert dann, dass Stellen im offiziellen Arbeitsmarkt unterhalb dieses Lohnes entstehen können mit dem Effekt, dass durch die Migration Arbeitslosigkeit entsteht. Migration und Mindestlöhne auf dem Arbeitsmarkt stehen in einer Marktwirtschaft in einem Spannungsverhältnis. Wer politisch mehr Personenfreizügigkeit mit höherem Lohnschutz erkaufen möchte, spielt mit dem Risiko, am Ende Arbeitslosigkeit zu erhalten.

Neben dem Arbeitsmarkt ist auch die Wirkung der Migration auf die öffentlichen Finanzen von Interesse. Wer in die Schweiz einwandert, nimmt nicht nur am Arbeitsmarkt teil, sondern erwirbt auch Rechte an öffentlichen Leistungen und Pflichten zu deren Finanzierung. Zu den öffentlichen Leistungen gehört in einem ausgebauten Wohlfahrtsstaat zu einem wesentlichen Teil der Sozialstaat. In der wissenschaftlichen Literatur wird intensiv darüber diskutiert, wie stark der Sozialstaat als Wohlfahrtsmagnet eine Sogwirkung auf die Geringqualifizierten ausübt. Die Antwort ist alles andere als trivial, denn es kommt stark auf das Wohlstandsniveau des betrachteten Lands, den Zustand des Arbeitsmarkts, die konkrete Ausgestaltung des Sozialstaats und auf vieles mehr an. Auch wenn man die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten berücksichtigt, ist klar, dass das vergleichsweise hohe Niveau an sozialer Sicherung in der Schweiz für sehr viele Menschen in der EU eine hohe Attraktivität ausstrahlt.

Ein nüchterner Blick auf die Wirkungen von Migration offenbart, dass der Ausbau der Freizügigkeit mit Risiken für den Arbeitsmarkt und die öffentlichen Finanzen verbunden ist.

Ein ausgebauter Sozialstaat ist bei Niederlassungsfreiheit nicht finanzierbar, wenn er nicht auf die Inländer beschränkt wird. Das sollte das Gewerbe interessieren. Denn bei den Verhandlungen mit der EU geht es nicht nur um Marktzugang. Es geht auch um die Finanzierung unseres Sozialstaats. Und diese Rechnung bezahlt am Ende wieder das Gewerbe.

*Professor Christoph A. Schaltegger leitet das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern.

www.iwp.swiss/team

www.iwp.swiss/institut

www.wirtschaftsbildung.ch/schaltegger-christoph.html

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