Publiziert am: 08.11.2024

«Wir müssen die Ursachen anpacken»

STEIGENDE PRÄMIEN – Der Nationalrat hat eine Motion angenommen, welche die Krankentaggeldversicherung obligatorisch erklären will. Der Gewerbeverband lehnt das ab. «Das wäre reine Symptombekämpfung», sagt sgv-Vorstandsmitglied und SVP-National-rätin Diana Gutjahr. Sie fordert mit einem Postulat, dass der Bund alle Akteure an einen Tisch bringt.

Das Thema «Krankschreibungen am Arbeitsplatz» gewinnt an Brisanz. Denn man liest es überall: Insbesondere psychische Probleme nehmen zu. Und diese führen zu langen Absenzen am Arbeitsplatz. In diesem Zusammenhang gelangt auch die Krankentaggeldversicherung verstärkt in den Fokus, mit welcher die Lohnfortzahlung versichert werden kann.

Sie ist heute freiwillig und sozialpartnerschaftlich gelöst. Für Arbeitgeber und -nehmer ist sie eine vorteilhafte Lösung. Erstere können die Kosten im Krankheitsfall kalkulieren. Letztere sind dadurch gut abgesichert. Einige Branchen schreiben im Gesamtarbeitsvertrag eine solche Versicherung obligatorisch vor. Möglich wäre für Unternehmen auch, auf die Versicherung zu verzichten, und die – vom Gesetz obligatorisch vorgeschriebene – Lohnfortzahlung aus dem ersparten Firmenvermögen zu bezahlen.

In letzter Zeit häufen sich nun Medienberichte, dass KMU zunehmend Mühe bekunden, eine solche Versicherung abzuschliessen. Oder dass die Prämien massiv gestiegen sind, nachdem Krankheitsfälle im Unternehmen aufgetreten sind. Politisch steht ein Obligatorium im Raum. Der Nationalrat hat eine entsprechende Motion im letzten Herbst angenommen.

Zunehmend ein Problem

Dass die steigenden Prämien zunehmend ein Problem darstellen, beobachtet auch sgv-Vorstandsmitglied und SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr. Ein Obligatorium hält sie aber für den falschen Weg.

Vielmehr fordert sie mit einem Postulat einen Bericht vom Bundesrat, welcher Transparenz zu Absenzen und Krankschreibungen am Arbeitsplatz sowie zur Versicherungsabdeckung und zur Prämienentwicklung herstellt – dies unter Einbindung der Sozialpartner, der Versicherer und weiterer Beteiligter. Und, ganz wichtig: Sie fordert Massnahmen, wie Krankschreibungen am Arbeitsplatz verringert werden können. Der Nationalrat hat ihren Vorstoss im Frühjahr angenommen.

Schweizerische Gewerbezeitung: Was wollen Sie mit Ihrem Postulat erreichen?

Diana Gutjahr: Absenzen und Krankschreibungen nehmen zu. Das führt zu höheren Prämien bei der Krankentaggeldversicherung, was ein Problem darstellt. Leider fragt niemand nach den Gründen für diese ungute Entwicklung oder will das Übel an der Wurzel packen. Das Ziel muss sein, die Menschen wieder möglichst schnell in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Die Versicherer warben vor Jahren mit dem vermeintlichen Heilmittel Case-Management. Leider blieb davon nicht viel übrig.

Mir kommt es so vor, als dass wir Unternehmer eigentlich noch die Einzigen sind, die an einer schnellen Integration interessiert sind, und daran, dass die Kosten nicht vollständig aus dem Ruder laufen. Obwohl es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt. Die Ärzte können ihre Untersuchungen vollständig abrechnen. Die Versicherungen erhalten ihre Prämien und erhöhen diese, wenn sie es für nötig erachten, was legitim ist. Es wird schlicht zu viel Pflästerlipolitik betrieben. Jeder ärgert sich, aber niemand tut etwas dagegen. Deshalb braucht es eine breite Auslegeordnung. Der Bund soll nun alle Akteure an einen Tisch bringen.

Sie fĂĽhren ein klassisches Familien-KMU mit rund 80 Mitarbeitern und zehn Lehrlingen: Welche Erfahrungen machen Sie?

Wenn Personen psychisch angeschlagen sind, lässt sich das nur zu einem kleinen Teil auf die Arbeit – wenn überhaupt – zurückführen. Das besagen auch Studien. Die Probleme beginnen meist zu Hause und verstärken sich dann am Arbeitsplatz oder fallen da zuerst auf. Seit Corona fällt mir auf, dass Mitarbeiter in der Regel eher fünf anstatt drei Tage fehlen.

«Das Ziel muss sein, die Menschen wieder möglichst schnell in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.»

Doch zu einem konkreten Beispiel: Wir hatten in unserer Firma einen krebskranken Mitarbeiter. Nach mehreren Monaten Absenz war er zum Glück körperlich wieder gesund. Durch die Krankheit bekam er allerdings auch psychische Probleme. Der Psychiater schrieb ihn krank. Ich wollte irgendwann wissen, wie es ihm geht und ob er bald wieder zumindest teilweise in den Arbeitsprozess integriert werden kann. Denn Menschen brauchen eine Tagesstruktur und ein Umfeld, wo sie sich gebraucht fühlen, um gesund zu werden und zu bleiben. Davon bin ich überzeugt.

Der Psychiater hat meinem Mitarbeiter jedoch ein Redeverbot gegenüber mir als Arbeitgeberin erteilt. Aufgrund des Kontaktabbruchs wusste ich über Monate weder wie es dem Mitarbeiter geht noch wann ich wieder mit ihm rechnen kann. Und ich musste ihm kündigen, so leid es mir tat. Eins darf man dabei nicht vergessen: Ausfälle sind für alle anderen Mitarbeiter eine Zusatzbelastung. Im schlimmsten Fall werden sie auch noch krank.

Ich denke, die ärztliche Schweigepflicht gegenüber dem Arbeitgeber sollte ein Stück weit gelockert werden – so in der Art einer ‹arbeitsplatzbezogenen Schweigepflichtentbindung›. Die Ärzte vergessen teilweise, dass die Arbeitgeber am nächsten am Arbeitnehmer dran sind. Generell sollte das Zusammenspiel verbessert werden. Mit gewerbenahen Ärzten funktioniert das gut.

Wie gross ist das Problem, dass KMU keine Krankentaggeldversicherung finden?

Nach meiner Erfahrung handelt es sich um wenige Einzelfälle. Das sagt auch der Bundesrat, welcher ein Obligatorium ebenfalls ablehnt. Er schreibt: ‹Für einen Grossteil der Erwerbstätigen ist ein ausreichender Versicherungsschutz mittels einer fakultativen Versicherung gewährleistet.› Ich empfehle KMU, dass sie sich beim Schweizerischen Versicherungsverband SVV melden sollen, wenn sie Mühe bekunden, eine Versicherung zu finden.

Weshalb ist ein Obligatorium falsch?

Weil es dadurch nur noch teurer wird – die obligatorische Krankenversicherung oder die SUVA lassen grüssen. Als Arbeitgeber wäre man einer Rechnung ausgeliefert und muss diese bezahlen, ohne sich wehren zu können. Das sehe ich heute schon bei der obligatorischen Unfallversicherung. Da kann ich nicht einmal wählen, bei wem ich versichert sein will, geschweige denn kann ich mittels Offerten abschätzen, ob die Prämien risikogerecht sind oder nicht. Ich bezahle hier mittlerweile einen mittleren sechsstelligen Beitrag. Bei der Krankentaggeldversicherung liegt er im hohen fünfstelligen Bereich. Ein Obligatorium wäre eine reine Symptombekämpfung mit immer höheren Prämien und weniger Flexibilität. Stattdessen müssen wir die Ursachen anpacken.

Interview: Rolf Hug

Fachtagung

Kostenlos und auch online

Der Verein Compasso und die Swiss Insurance Medicine (SIM) veranstalten am Dienstag, 12. November, eine Arbeitgeber- sowie Ärzteveranstaltung zum Thema: «Teilarbeitsfähigkeit durch Arbeitsfähigkeitszeugnis». Im Rahmen dieser Fachtagung wird Diana Gutjahr über ihr Postulat sprechen (vgl. Interview). Die Tagung findet von 14 bis 17.15 Uhr im Auditorium Careum in Zürich statt. Der Anlass ist kostenlos, und er wird auch online angeboten.

Weitere Informationen zum Programm, zur Anmeldung und ĂĽber Compasso unter:

reintegration.compasso.ch/fachtagung2024

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