Im Rahmen des Entlastungspakets 27 des Bundes zur Dämpfung des Wachstums der Bundesausgaben schlägt der Bundesrat auch eine Neuregelung der Besteuerung von Kapitalbezügen aus zweiter und dritter Säule vor. Damit sollen Mehreinnahmen von rund 200 Millionen Franken generiert werden. Dieser Vorschlag hat eine lebhafte Debatte ausgelöst. Gehören zusätzliche Einnahmen in ein Sparprogramm? Werden die Regeln zur Besteuerung der Gelder aus den Pensionskassen während des Spiels geändert? Widerspricht dieses Vorgehen Treu und Glauben? Werden eigenverantwortlich handelnde Sparer geschröpft?
Das Parlament ist gut beraten, wenn es sich vor einem Entscheid zur Besteuerung von Kapitalbezügen aus der beruflichen Vorsorge und der Selbstvorsorge vorgängig und zuerst grundsätzlich im Klaren darüber ist, wie das geltende Drei-Säulen-Konzept überhaupt funktioniert.
Bund fördert Selbstvorsorge über steuerliche Massnahmen
Artikel 111 bis 113 der Bundesverfassung (BV), wie sie 1972 vom Souverän beschlossen wurden, sprechen Klartext. Daran sollten sich Bundesrat und Parlament halten. AHV und BVG, berufliche Vorsorge, sollen «angemessene Renten» produzieren und zusammen mindestens 60 Prozent des letzten Lohnes als Altersrente garantieren. Heute entspricht dies einem versicherten Lohn von 90 720 Franken und einer Rente von 54 432 Franken. Dies garantiert im Minimum das Obligatorium des BVG und die AHV. Höhere Löhne werden im Überobligatorium versichert. Neben der ersten (AHV) und der zweiten (BVG) Säule fördert der Bund die Selbstvorsorge namentlich über steuerliche Massnahmen.
AHV- und BVG-Beiträge können steuerlich abgezogen werden. Folglich, so steht es bereits in der Botschaft von 1975 zum BVG, werden auch AHV- und BVG-Renten gleich besteuert. Damit werden die Steuerausfälle beim Abzug kompensiert. Auch die Selbstvorsorge soll steuerlich gleich behandelt werden.
AHV und BVG-Obligatorium zwingen die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber zum Sparen mit dem Ziel, eine angemessene Rente zu erzielen. Das macht sie in diesem Bereich zu Sozialversicherungen. Die Leistungen sollen als Rente bezogen werden. So steht es in Artikel 37 BVG. Eine Kapitalabfindung kann im Reglement vorgesehen werden. So lautete der ursprüngliche Artikel.
Gesetzgeber hat «Kann-Formel» über Gebühr erweitert
Diese ursprüngliche «Kann-Formel» weist darauf hin, dass es neben dem Obligatorium auch ein Überobligatorium gibt. Dass also auch höhere Löhne im BVG versichert werden können. Wer also über das Obligatorium hinaus Gelder angespart hat, soll auch darüber frei verfügen können, ob er diese in Renten- oder Kapitalform beziehen möchte. Das war der Gedanke der BVG-Väter. Der Zweck der Altersvorsorge, «ausreichende» Renten zu garantieren, muss in der «Schattenrechnung» nachgewiesen werden. Vorsorgeeinrichtungen, die ihre Versicherten über das Obligatorium hinaus versichern, sind deshalb verpflichtet, in der Buchhaltung genau festzuhalten, dass das BVG-Minimum stets abgedeckt ist. Damit wird die BVG-Rente gesichert.
Der Gesetzgeber hat nun aber in der ersten BVG-Revision, in Kraft seit 2005, diese «Kann-Formel» über Gebühr erweitert. Seither kann der Versicherte auswählen, ob er das gesamte Kapital oder eine Rente beziehen will. Im Grunde genommen wird damit der Gedanke des Zwangssparens im BVG-Obligatorium usurpiert. Weil die berufliche Vorsorge gemäss BV 111 keine private Versicherung ist, weil der Staat dazu insbesondere im Bereich des Obligatoriums klare Vorschriften erlässt, müssen die versprochenen Leistungen erfüllt werden.
Kapitalbezug nimmt zu
In jüngster Zeit sahen sich die Pensionskassen, die vornehmlich im überobligatorischen Bereich tätig sind – sogenannte «umhüllende Kassen» –, gezwungen, angesichts der tiefen Zinsen und der zunehmenden Lebenserwartung ihre Umwandlungssätze herabzusetzen. Damit fiel diese Masszahl, die die Höhe der Rente festlegt, unter die Grenze von 6,8 Prozent, wie sie im Obligatorium angewendet werden muss. Angesichts von Umwandlungssätzen von bis unter 5 Prozent entwickelte sich eine lukrative Beratungsindustrie zur Förderung des Kapitalbezugs. Seit 2015 nimmt denn auch die Summe der in Form von Kapital bezogenen Leistungen bei den Männern laufend zu. Im Durchschnitt stie-gen sie seit 2015 von 218 000 auf 333 000 Franken (2023).
Heute kann nun das gesamte Vorsorgekapital anstelle einer Rente bezogen werden, also auch das Kapital aus dem Obligatorium, das rund 400 000 Franken betragen kann. Die Versuchung ist nun gross, dieses Geld aus der Pensionskasse herauszunehmen. Bei höheren Löhnen mit Altersguthaben von über einer Million und tiefen Umwandlungssätzen ist die Verlockung noch grösser. Und eine gierige Finanzindustrie rät dazu, die Ernte einzufahren. Was ist zu tun?
Renten müssen wie Einkommen versteuert werden
Zu raten ist, dass die fixen Ausgaben zuerst mit einer Rente abgedeckt werden. Bleibt etwas übrig, müssen Fragen zur Kenntnis über Kapitalanlagen und zur Risikobereitschaft beantwortet werden. Erst danach kann ein Entscheid über Rente und/oder Kapitalbezug gefällt werden.
Damit verbunden sind darüber hinaus auch steuerrechtliche Fragen. AHV- und BVG-Renten müssen wie Einkommen versteuert werden. Werden Gelder aus der Pensionskasse bezogen, unterliegen diese einer Einmalsteuer. Diese ist abhängig von der Höhe des Kapitalbezugs und variiert von Kanton zu Kanton. Das bezogene Kapital wird schliesslich dem Vermögen hinzugezählt und unterliegt der Vermögenssteuer. Die im Rahmen des Entlastungsprogrammes des Bundes vorgesehene Steuer für bezogene Kapitalien aus zweiter und dritter Säule werfen somit grundsätzliche Fragen auf. Zwar entspricht die von den Experten geforderte steuerliche Gleichbehandlung von Renten und Kapitalbezug der Grundidee des BVG. Weil die berufliche Vorsorge zwei Teile aufweist, muss aber unterschieden werden zwischen Obligatorium und Überobligatorium.
Wie bereits dargestellt, widerspricht es eigentlich der Bundesverfassung, wenn alle Gelder aus dem gesetzlichen Obligatorium bezogen werden. Diese Kapitalien müssen in der Pensionskasse verbleiben.
Fragen über Fragen
Bevor überhaupt darüber entschieden wird, wie die Kapitalien steuerlich belastet werden sollen, müssen somit grundsätzliche Fragen zum Drei-Säulen-Konzept behandelt werden. Erst dann kann darüber entschieden werden, ob Renten und Kapital steuerlich gleichbehandelt werden sollen.
Darüber hinaus: Wie werden Kapitalbezüge aus dem Obligatorium von Selbstständigerwerbenden geregelt? Wie werden Freizügigkeitsguthaben in diesem Zusammenhang behandelt? Fragen über Fragen, die mit der Besteuerung der Gelder der dritten Säule noch komplexer werden. Sollen auch diese steuerlich gleichbehandelt werden wie AHV- und BVG-Renten? Wer legt die Regeln fest? Bund, Kantone? Wer kassiert?
Angesichts dieser zahlreichen Grundsatzfragen muss eine Neuformulierung der Besteuerung von Kapitalbezügen aus zweiter und dritter Säule aus dem ausgabenseitig orientierten Entlastungspaket des Bundes herausgenommen und allenfalls später mit einer speziellen Gesetzesrevision separat geregelt werden.
Werner C. Hug