Derzeit finden intensive Debatten über die Zukunft der AHV statt. Alle Augen sind deshalb auf unsere wichtigste Sozialversicherung gerichtet – und das ist legitim. Doch während sich die Aufmerksamkeit auf die AHV konzentriert, befindet sich die Invalidenversicherung (IV) in einer unauffälligeren, aber nicht minder besorgniserregenden Krise. Ein rasanter Anstieg der Rentenzahlen, insbesondere bei jungen Menschen, eine explosionsartige Zunahme von Fällen im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit, finanzielle Fehlentwicklungen: Die Alarmsignale häufen sich.
Seit 2012 ist die Zahl der neuen IV-Renten um 42 Prozent in die Höhe geschnellt. Noch besorgniserregender ist der rasante Anstieg bei den unter 30-Jährigen. Bei jungen Erwachsenen sind psychische Störungen mittlerweile die Hauptursache für den Eintritt in die IV. Je früher eine Rente gewährt wird, desto höher ist das Risiko eines dauerhaften Ausschlusses aus der Arbeitswelt. Einem jungen Erwachsenen eine Rente zu gewähren, kann deshalb bedeuten, ihn in die ständige Abhängigkeit zu verdammen. Daher sollte eine klare Anhebung des Mindestalters für die Gewährung einer IV-Rente – zum Beispiel auf 30 Jahre – ernsthaft in Betracht gezogen werden. Eine solche Massnahme würde allen Akteuren einen Anreiz bieten, die Wiedereingliederungsbemühungen zu intensivieren. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass einige junge Versicherte eine anspruchsvollere Betreuung benötigen, um nicht zu früh auf ein eigenständiges Berufsleben zu verzichten.
Defizit statt Überschuss
Entgegen einer weit verbreiteten Meinung haben psychische Störungen ihren Ursprung in der Regel nicht in der Arbeitswelt. Inaktivität, Isolation oder das Fehlen einer beruflichen Perspektive wiegen viel schwerer. Arbeit ist ein Faktor für die psychische Gesundheit: Sie strukturiert, wertet auf und gibt Sinn. Aus diesem Grund vertritt der Schweizerische Gewerbeverband sgv seit langem den Grundsatz «Eingliederung vor Rente». In der Praxis sind die KMU bereits sehr engagiert und gehen mit gutem Beispiel voran. So beschäftigen sie mehr Menschen mit Beeinträchtigungen als Grossunternehmen. Um die Ziele der Wiedereingliederung zu erreichen, muss jedoch das gesamte Wirtschaftsgefüge mobilisiert werden.
Auf der Seite der Finanzen nimmt die Situation der IV eine beunruhigende Wendung. Während die 2023 vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erstellten Szenarien bis 2033 einen kumulierten Überschuss von 7,2 Milliarden Franken erwarten liessen, gehen die neuen, im April 2025 veröffentlichten Projektionen für denselben Zeitraum nun von einem Defizit von 400 Millionen Franken aus.
Diese Kehrtwende um fast 8 Milliarden Franken stellt die Aussichten auf einen Schuldenabbau grundlegend in Frage. Die Schulden der IV bei der AHV, die auf 3 Milliarden sinken sollten, bleiben bei über 10 Milliarden Franken eingefroren. Grund dafür ist ein Prognosemodell, das auf zu optimistischen Annahmen beruht, insbesondere was die Entwicklung der Neurenten – vor allem aus psychischen Gründen – betrifft.
Es darf keine Mehrbelastungen für Unternehmen geben
Diese Entwicklung ist umso problematischer, als der Bundesrat bei der Abstimmung über die vorübergehende Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Finanzierung der IV versprochen hatte, bis 2025 wieder ein ausgeglichenes Haushaltsergebnis zu erreichen. Heute ist dieses Ziel in weite Ferne gerückt. Für den sgv ist es ausgeschlossen, dass diese Fehlentwicklung durch weitere Erhöhungen der Belastungen für Unternehmen und Arbeitnehmer korrigiert wird. Die Sanierung muss über eine mutige Reform der Ausgabenstruktur erfolgen. Das Parlament muss die Klarheit haben, die bereits identifizierten Sparvorschläge wieder auf die Tagesordnung zu setzen und unverzüglich neue Wege zur Kostendämpfung zu formulieren.
Die IV muss ein Sicherheitsnetz für diejenigen bleiben, die es wirklich brauchen. Um ihren Fortbestand zu sichern, müssen jedoch ihre Mechanismen überprüft, die Integration gestärkt und sollte passives Verhalten nicht unterstützt werden. Der sgv ruft zu einer raschen politischen Mobilisierung auf. Die Solidität der IV zu bewahren, bedeutet, gleichzeitig die Würde der Menschen, die Gerechtigkeit zwischen den Generationen und die Verantwortung für die öffentlichen Finanzen zu schützen.
Simon Schnyder, Ressortleiter sgv