Publiziert am: 04.07.2025

Sozialpartnerschaft: Nicht wichtig?

Mindestlöhne – Gewerkschaften und linke Politiker wollen die Sozialpartnerschaft mit kantonalen Mindestlöhnen aushöhlen. Der Nationalrat hat in der Sommersession an seiner Position festgehalten, dass sozialpartnerschaftlich ausgehandelte Mindestlöhne kantonalen Regelungen vorgehen sollen. Richtig so. Der Ständerat tut gut daran, diesem Entscheid zu folgen – aus vielen Gründen.

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Die Arbeitgeber schliessen mit den Gewerkschaften national gültige Gesamtarbeitsverträge (GAV) ab, also sorgfältig austarierte Gesamtpakete, welche das Arbeitsverhältnis über den Mindestlohn hinaus umfassend regeln (13. Monatslohn, Entschädigungen, Ferien, Arbeitszeitvorschriften usw.). Der Bundesrat erklärt diese GAV für allgemein verbindlich (ave GAV). Das heisst, sie gelten damit für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer einer Branche im gesamten Land.

Nur kurz nach diesem Vertragsabschluss und dem Entscheid des Bundesrats beginnen die Arbeitgeber in ihren politischen Hochburgen diese national geltenden Abmachungen zwischen den Sozialpartnern in ihrem Sinne in gewissen Punkten zu unterlaufen. Bis in die kleinsten Gemeinden des Landes vom Bündnerland in die Innerschweiz, ins Zürcher Tösstal und Berner Oberland bis ins Unterwallis.

Journalistische Steilpässe

Es braucht keine prophetischen Kräfte, um zu erahnen, dass dann der Teufel los wäre. Im «Blick», der Zeitung mit den guten und wohlgesinnten Drähten zu linken Machthabern, folgte eine Story nach der nächsten, was sich die Arbeitgeber eigentlich erlaubten. Gewerkschaftsfunktionäre, die in Edelmänner-Manier vorgeben, sich für die Arbeitnehmer einzusetzen, aber unter anderem auf deren Kosten hohe Löhne kassieren, könnten – mit journalistischen Steilpässen bedient – frei von der Leber weg aus dem Vollen schöpfen. Jedes noch so kleinste Detail würde genüsslich ausgeschlachtet.

Diese beschriebenen Vorgänge spielen sich derzeit tatsächlich ab, in umgekehrter Konstellation. Gewerkschaften und rot-grüne Politiker unterlaufen die Abmachungen in Form der ave GAV im Bereich Mindestlöhne in verschiedenen Kantonen und bis hinunter auf Gemeindestufe. Nur: In diesem Falle bleibt die kritische Berichterstattung weitgehend aus.

Dass die Gewerkschaften damit gegen Treu und Glauben verstossen? Egal. Dass die Einführung eines nationalen Mindestlohns 2014 krachend an der Urne gescheitert ist? Längst vergessen. Dass die Gewerkschaften damit am Ast sägen, auf dem sie sitzen, indem sie so den Untergang der Sozialpartnerschaft einleiten? Auch das ist wenig Beachtung wert. Doch genau um diese Frage geht es letztlich: Denn warum sollten Arbeitgeber noch ave GAV, also austarierte Gesamtsysteme, eingehen, wenn diese dann in Einzelpunkten bis auf Gemeindestufe unterlaufen – richtig wäre: hintertrieben – werden?

Wo blieb der Aufschrei?

Der Nationalrat hat das erkannt. Er hat in der Sommersession entschieden, dass Regelungen – zum Beispiel beim Mindestlohn – in ave GAV den Entscheiden auf den unteren Staatsebenen (Kanton und Gemeinde) vorgehen sollen. Das ist richtig so. Er schiebt damit auch einem drohenden unübersichtlichen Mindestlohn-Flickenteppich den Riegel vor, welcher bei KMU noch mehr Bürokratie verursacht.

Der von rot-grünen Politikern – welche urplötzlich den Föderalismus entdeckt haben – in der Ratsdebatte vorgetragene Angriff auf die Demokratie, weil die Mindestlöhne in Volksabstimmungen angenommen wurden, greift sowieso zu kurz. Erstens behalten die Kantone mit der neuen Regelung ihre Kompetenz, Mindestlöhne zu erlassen, wo ave GAV keine Mindestlöhne vorsehen. Zweitens steht der Bund in der Normenhierarchie höher als Kantone und Gemeinden und damit auch das Parlament als Königsgewalt unter den verfassten Staatsgewalten. Gerade vor dem Hintergrund dieses letzten Punktes: Wenn etwas ein Putsch oder Angriff auf die Demokratie ist, dann die Machtanmassung des Bundesgerichts, welches sich von der rechtsprechenden Gewalt polit-aktivistisch zur gesetzgebenden Gewalt aufschwingt – so geschehen beim Bundesgerichtsurteil zum kantonalen Mindestlohn in Neuenburg.

«Es braucht keine prophetischen Kräfte, um zu erahnen, dass im umgekehrten Fall der Teufel los Wäre.»

Nachdem der Mindestlohn auf nationaler Ebene von Volk und Ständen bachab geschickt wurde, etikettierten die Richter in Lausanne diesen flugs zur «sozialpolitischen Massnahme» zwecks Armutsbekämpfung um und schoben die Kompetenzhoheit den Kantonen zu. Wo blieb da der Aufschrei?

Wirtschaftsraum gefährdet

Ein Gutachten von Rechtsprofessorin Isabelle Häner im Auftrag von GastroSuisse zeigt klar: «[Es] bestehen berechtigte Gründe, die Einführung eines kantonalen Mindestlohns als eine kompetenzwidrige Form wirtschaftspolitischer Massnahmen einzustufen, weil die Kantone damit den schweizerischen Wirtschaftsraum, insbesondere im Bereich der ausländischen und interkantonalen Arbeitsmigration, gefährden und die etablierte Sozialpartnerschaft beschneiden», schreibt sie.

Zudem enthält die Bundesverfassung auch Bestimmungen zum arbeitsrechtlichen Bereich und daraus ergebe sich eine «umfassende Gesetzgebungskompetenz zugunsten des Bundes mit nachträglich derogatorischer Wirkung». Das heisst: Der Bund kann bestimmen und die Kantone in Bezug auf den Mindestlohn übersteuern.

Stärkung der Berufsbildung

Zum Glück: Denn ein Mindestlohn als sozialpolitische Massnahme zu verkaufen, wie es das Bundesgericht tat – auf ein solches Argument muss man zuerst einmal kommen. Mindestlöhne schaffen Arbeitslosigkeit, weil sie den Einstieg von ungelernten Arbeitskräften in den Arbeitsmarkt verhindern. Die Wahrscheinlichkeit für negative Effekte auf den Arbeitsmarkt ist höchstens bei moderaten Mindestlöhnen, die bei guter gesamtwirtschaftlicher Lage eingeführt werden, relativ gering. Sie steigt jedoch, je höher die Mindestlöhne sind, je mehr Arbeitskräfte betroffen sind und je schlechter es der Wirtschaft geht. Und: Wenn ave GAV Vorrang vor kantonalen Mindestlöhnen haben, stärkt das die Berufsbildung und verhindert Lohndumping durch Entsandte.

Der Ständerat tut also gut daran, dem Entscheid des Nationalrats zu folgen. Für einen starken Wirtschaftsstandort und für nichts Geringeres als die Rettung der Sozialpartnerschaft, welche zum Erfolgsmodell Schweiz beigetragen hat und seit über 100 Jahren den sozialen Frieden garantiert – auch wenn dies die Gewerkschaften in jüngster Zeit vergessen zu haben scheinen.

Rolf Hug

Weiterführende Artikel

Meist Gelesen