Publiziert am: 19.09.2025

Herr der Schirme

Schirmservice – In seinem Atelier im bernischen Münchringen repariert Erich Baumann als letzter Schirmflicker der Schweiz über 1000 Exemplare pro Jahr. «Am Anfang wurde ich belächelt. Heute wird Nachhaltigkeit grossgeschrieben und ich bin voll im Trend», sagt der 58-Jährige.

Erich Baumann ist ein Handwerker und Tüftler. Das merkt man sofort, wenn man sein Atelier im bernischen Örtchen Münchringen betritt. Es läuft Rockmusik und er widmet sich gerade einem schwarz-grau-weiss karierten Taschenschirm. «Es ist einer von der Designermarke Burberry», weiss sein Kenner-Auge. «Neu kostet dieses Exemplar etwa 200 Franken.»

35 Franken beträgt der Durchschnittspreis für eine Reparatur beim letzten Schirmflicker der Schweiz. «Ich bin wirklich der letzte meiner Art», betont Baumann verschmitzt. Über 1000 «Patienten» – so bezeichnet er die Schirme liebevoll – haucht er jährlich neues Leben ein. Im letzten Jahre waren es 1246. «Ein neuer Rekord.» Lediglich für 15 «Patienten» fand er keine Lösung.

«Jeder Schirm ist anders»

Ob kleiner Taschen- oder grosser Stockschirm, ob Sonnen- oder Fotoschirm – jedes Modell ist beinahe ein Unikat. Das spornt Baumann an. «Ich liebe die Herausforderung. Jeder Schirm ist anders und braucht für die Reparatur eine individuelle Lösung.»

Das fängt beim Stoff an – Baumann spricht von einem «Massanzug» –, geht über die Speichen und den Schliessmechanismus bis hin zum Griff. Beim Reparieren hilft dem 58-Jährigen seine langjährige Erfahrung. Seit rund 15 Jahren betreibt er mittlerweile seinen Schirmservice.

In Berührung gekommen ist er damit aber schon früher. Baumann war als Arbeitsagoge in einer Stiftung tätig, die Menschen mit psychischen Schwierigkeiten betreut. «In der dortigen Werkstatt wurden Schirme geflickt.» Doch diese anspruchsvolle Arbeit war eher etwas für Spezialisten und fristete ein Nischendasein.

Frau spielt wichtige Rolle

Im Jahr 2009 ging dann plötzlich nichts mehr bei Baumann. «Ich hatte ein Burn-out und musste danach umsatteln.» Er gründete seinen Schirmservice und begann für die Verkehrsbetriebe der Stadt Bern zu arbeiten. «Noch heute bin ich in einem 70-Prozent-Pensum als Tram- und Buschauffeur bei Bernmobil tätig.» Für seine Schirmflickerei wendet er mittlerweile im Schnitt 30 Prozent auf. Jetzt, im Herbst, dürften es mehr sein. Fegt ein Unwetter über die Schweiz, dann weiss Baumann, dass bald viel Arbeit auf ihn zukommt. Seine Hauptpatienten sind Regenschirme, die bei starkem Wind umgedreht werden und kaputtgehen.

Ein wichtiger Bestandteil seines Geschäfts ist seine Frau. Susanne Baumann macht die Buchhaltung und bringt die Pakete mit den reparierten Exemplaren zur Post. «Wir sind ein kleiner Zwei-Personen-Betrieb, haben einen Eintrag im Handelsregister und bezahlen Unternehmenssteuern», betont der Schirmdoktor. Es sei eine grosse Portion Idealismus dabei, aber rechnen müsse sich das Geschäft schon.

Susanne Baumann holt reparaturbedürftige Schirme ausserdem bei ausgewählten Abholstationen ab. Die bekannteste ist das Warenhaus Loeb beim Hauptbahnhof Bern.

«Man sollte den Schirm immer aufgespannt trocknen lassen.»

Mit Loeb teilt Erich Baumann eine enge Geschichte. «Als der letzte Schirmflicker von Bern den Betrieb einstellte, suchte der ehemalige Patron François Loeb nach Alternativen. Da kam er über Umwege auf mich. Seither flicke ich im Auftrag des Warenhauses die Schirme dessen Kunden. François Loeb sorgte dafür, dass dieses Handwerk nicht ausstarb.»

Heute ist Baumann kein Unbekannter mehr. Er war bei Kurt Aeschbacher in dessen Talk-Sendung auf SRF. Selbst die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» berichtete schon über ihn. «Das war eine Art Ritterschlag.» Der Tüftler weiss viel zu erzählen, kann es gut und macht es gern. Man merkt, dass er Medienleute mittlerweile gewohnt ist.

Erinnerung an verstorbenen Partner

Sein Atelier befindet sich in einem ehemaligen Schulhaus, das denkmalgeschützt ist, und versprüht Charme. Baumann hat über die Jahre eine grosse Sammlung an Ersatzteilen angehäuft, welche er schön geordnet in Schubladen aufbewahrt. «Mein Ersatzmaterial erhalte ich unter anderem von Schirmen aus Fundbüros.» Er hat auch schon mit 3D-Druck gepröbelt und Teile selbst gegossen. «Doch das war aufgrund der Materialbeschaffenheit nicht wirklich erfolgreich.»

Die meisten Schirme werden in China produziert, Einzelteile gibt es davon jedoch kaum. Manche Menschen betrachten Schirme als Wegwerfartikel. Bei Baumanns Kunden ist das anders. «Die Schirme meiner Kunden sind meist ein wenig teurer. Viele haben einen emotionalen Bezug zu ihnen. Zum Beispiel kann der Schirm eine Erinnerung an den verstorbenen Partner sein. Oder jemand verbindet damit wichtige Erlebnisse wie den ersten Kuss unter dem Schirm.» Für Schirmbesitzer hat er einen einfachen Tipp: «Man sollte ihn immer aufgespannt trocknen lassen.»

Bei einem weiteren Patienten, der im Atelier auf eine Behandlung wartet, handelt es sich um ein historisches Modell. Er dient als Requisite für die Belle-Époque-Wochen, die jeweils im Januar in Kandersteg stattfinden. «Der Stoffbezug ist gerissen. Es handelt sich um echte Seide.»

Jüngste Tochter hat Geschick

Als Baumann mit dem eigenen Geschäft angefangen hat, sei er ein wenig belächelt worden. «Heute, wo Nachhaltigkeit grossgeschrieben wird, bin ich voll im Trend.» Manchmal kommen Eltern mit ihren Kindern in seinem Atelier vorbei, um ihren Schützlingen den Gedanken der Nachhaltigkeit näherzubringen.

Der 58-Jährige hat selbst drei erwachsene Kinder und ist mittlerweile vierfacher Grossvater. Er verspürt einen gewissen Druck, was die Nachfolge angeht. Nach seiner Pension droht das Handwerk auszusterben. Eine Lehre als Schirmflicker gibt es schon lange nicht mehr. «Vielleicht übernimmt dereinst meine jüngste Tochter mein Geschäft. Sie hat das handwerkliche Geschick dafür. Doch das schauen wir dann, wenn es so weit ist.» Bis dahin widmet sich Baumann weiterhin seinen «Patienten».

Rolf Hug

www.schirmservice.ch

Meist Gelesen