Publiziert am: 01.10.2021

«Aus Gelegenheit, nicht Not»

Rico Baldegger – Der ehemalige HSG-Absolvent und Unternehmer ist Direktor der Hochschulefür Wirtschaft HSW Freiburg, wo er das Institut für Unternehmertum und KMU gegründet hat. Er ist spezialisiert auf wachstumsstarke Start-ups, deren Methoden und Unternehmenskultur er analysiert.

Schweizerische Gewerbezeitung: Wie sehen Sie den Weg aus der Krise für KMU und Start-ups?

Rico Baldegger: Das Wachstum der KMU ist deutlich zurückgegangen. Im Jahr 2020 wirkten sich die externen Effekte der Pandemie für eine Reihe von Projekten negativ aus –und sie betrafen insbesondere Start-ups. Im Jahr 2021 haben sich nach unseren Beobachtungen die KMU und Start-ups gut erholt.

Was die Neugründungen betrifft, so stelle ich fest, dass die Kreditvergabe durch grosse Investmentfonds und institutionelle Anleger in diesem Zeitraum deutlich zurückgegangen ist, insbesondere im High-Tech-Sektor. Trotz der Krise zeigt die internationale Umfrage Global Entrepreneurship Monitor, an der wir teilnehmen, dass 7,3 Prozent der erwachsenen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in der Schweiz immer noch beabsichtigen, in den nächsten drei Jahren ein Unternehmen zu gründen.

Wie steht es heute um die Motivation von Unternehmensgründern?

Die Schweiz hat etwas Besonderes an sich. Hierzulande steht die Motivation, ein Start-up aus der Not heraus zu gründen, nicht im Vordergrund. Dahinter steckt eine weitere Triebfeder, nämlich die Gründung eines Start-ups aus einer Gelegenheit heraus – weil der Zeitpunkt günstig ist. Besonders deutlich wird dies in den wissenschaftlichen Bereichen. Es gibt auch eine Lebensstilkomponente. Das ist eine neue Geisteshaltung in der Schweiz, wie die Tatsache beweist, dass die Swisscom, die Bühler-Gruppe und die Mobiliar, um nur einige zu nennen, es heute cool finden, in Start-ups zu investieren, um Innovation in Aktion zu sehen. Das ist der letzte Schrei. Dennoch bleibt die Schweiz eher in ihrer Komfortzone gefangen.

Was ist der Grund für diese Haltung?

Dies zeigt sich daran, dass der Anteil der Studierenden, die am Ende ihres Studiums die Gründung eines Unternehmens ausschliessen, deutlich höher ist als im internationalen Vergleich (36,9 % in der Schweiz gegenüber 26 % im internationalen Vergleich). Warum sollte ich ein Unternehmen gründen, wenn ich einen gut bezahlten Job, Urlaub und andere Vorteile haben kann? Dies könnte sich mit der Generation Z ändern, die eher geschäftsorientiert zu sein scheint, wie wir bei unseren Studenten beobachten.

Bedroht diese Haltung den Unternehmergeist?

Natürlich beeinflussen auch die Pandemie und ihre Unwägbarkeiten die Wahrnehmung. Aber auch das Alter spielt eine Rolle, wie eine aktuelle Studie zum «Mythos Mozart» zeigt: Wenn es um die Gründung eines Unternehmens geht, sind junge Menschen mit Talent eine starke Ausnahme. Tatsächlich sind die 35- bis 44-Jährigen am erfolgreichsten. Hier gibt es eine Möglichkeit, die es zu erforschen gilt: Weiterbildung im Bereich des Unternehmertums für diejenigen, die zwischen 40 und 50 Jahre alt sind und eine Firma gründen wollen. Die erfolgreichste Altersgruppe auf der anderen Seite des Atlantiks sind übrigens die 35- bis 40-Jährigen.

Wie werden KMU international tätig?

Sie verhalten sich ein wenig wie grosse Unternehmen und multinationale Konzerne, d. h. sie versuchen in erster Linie, sich in einem «Hub» niederzulassen, und wählen globale Städte als Ausgangspunkt, wie Singapur für Südostasien oder São Paulo für Brasilien. Sie finden dort Kompetenz, Rechts- und Finanzberatung.

Was ist in diesem Zusammenhang die wichtigste Komponente für die Schweiz?

Die Unternehmenskultur, ohne Zweifel. In Bezug auf das Unternehmertum hat die Westschweiz den Vorteil, dass sie von der amerikanischen Kultur und der Biotechnologie geprägt ist. Die französische Sprache und ihre Netzwerke öffnen sicherlich Türen in Lateinamerika und Afrika. Internationale Geschäftskultur beschränkt sich nicht auf die Beherrschung einer Sprache, sondern beinhaltet auch, dass man sich auf Menschen verlassen kann, die das Land operativ kennen und in der Lage sind, Projekte voranzubringen. In der Deutschschweiz begünstigt dieselbe kulturelle Dimension die Beziehungen zu Deutschland, das nach wie vor die treibende Kraft ist. Start-ups aus dem Mittelland haben hier einen komparativen Vorteil, während die Westschweiz näher an den Vereinigten Staaten bleibt.

Wie setzen Sie diese Internationalisierung an der HSW Freiburg in die Praxis um?

Unsere Universität pflegt die Beziehungen zu Mexiko und vielen dortigen Unternehmen. Und einige unserer Mitarbeiter sprechen fliessend Mandarin. Wir ermutigen unsere Studenten, einen Teil ihres Studiums und ihrer Praktika in Singapur und Australien zu absolvieren, und wir heissen Studenten aus diesen Regionen zu demselben Zweck willkommen. Am Ende wird diese Erfahrung durch einen Doppelabschluss bestätigt. Wir befinden uns derzeit im Prozess der internationalen Akkreditierung in einem Club, der quasi die Champions League der Business Schools darstellt. Gegenwärtig sind vier Hochschulen in der Deutschschweiz und das International Institute for Management Development IMD in der Westschweiz beteiligt, wobei sich letzteres auf die Weiterbildung konzentriert. Damit wäre Freiburg das erste Institut in der Westschweiz, das Bachelor- und Masterstudiengänge akkreditiert!

Die jüngere Generation setzt sich für Nachhaltigkeit, Klima- und Energieauswirkungen ein: Was beobachten Sie Ihrerseits?

Dieser Trend bestätigt sich nachdrücklich und wird meiner Meinung nach auch nicht abnehmen. Wir beobachten eine steigende Anzahl von Studentenprojekten in nachhaltigen Bereichen. Es liegt auf der Hand, dass Kreislaufwirtschaft, Lebensmittel und Rückverfolgbarkeit, Textilien und Beschaffung sowie der gesamte Gesundheits- und Wellnessbereich an Bedeutung gewinnen. Wir haben in diesem Bereich gute Karten, denn letztlich ist es keine Frage der Grösse oder der Technologie. Es ist vor allem eine Frage der Überzeugung. Unternehmerische Projekte, die überzeugend sind, sind erfolgreicher.

Was ist heute das grösste Risiko für Unternehmer?

Die Innovation im Bereich Forschung und Entwicklung wurde während der Pandemie ein wenig vernachlässigt. Alle waren mit vielen anderen Dingen beschäftigt. Die kulturellen Aspekte der Innovation haben sich durch die Telearbeit verändert. Die Zusammenarbeit hat sich verlangsamt, was nun zu einem Aufholeffekt führt.

Welches sind die Auswirkungen der Pandemie auf Unternehmensübertragungen?

Künftig wird der Erfolg eines Unternehmens viel stärker von seiner Fähigkeit abhängen, seinen gesamten Ansatz in Bezug auf die digitale Technologie weiterzuentwickeln. Für ein KMU, dessen Stärke nicht die Digitalisierung ist, wird der Übergang zu jüngeren Generationen, die für diesen Aspekt sensibilisiert sind, viel schwieriger sein: Werkzeuge, Kundenbeziehungen, Marketing, alles wird auf den Prüfstand gestellt.

Der Digitalisierungsgrad ist in der Schweiz noch gering. Es besteht die Tendenz, die tatsächlich geleistete Arbeit zu überschätzen. Dies ist der Kern der kulturellen Dimension: Wir müssen die Entscheidungsträger überzeugen. Wir haben Schulungskurse angeboten, die aber leider nur eine begrenzte Resonanz gefunden haben. Daher betrachte ich dieses Thema mit einer gewissen Skepsis.

Interview:

François Othenin-Girard

ZUR PERSON

Rico J. Baldegger ist Direktor und Professor für Strategie, Innovation und Unternehmertum an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Freiburg (HSW). Er studierte an den Universitäten St. Gallen und Freiburg. Seine Forschungsaktivitäten konzentrieren sich auf innovative Unternehmensgründungen, das unternehmerische Verhalten von Einzelpersonen und Organisationen sowie das Phänomen schnell wachsender Unternehmen.

www.ricobaldegger.ch

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