Publiziert am: 10.12.2021

Das Gewerbe braucht mehr Freiheit

FACHKRÄFTEMANGEL – Weil erfolgreiche Grossbetriebe wie die Lonza viele Fachkräfte an sich binden, fehlen diese anderswo. Auch der Staat tritt immer stärker als Konkurrenz um begehrte Fachkräfte auf. Die Lösung heisst «weniger Bürokratie», wie Klaus J. Stöhlker schreibt.

Wer erleben will, wie auf kleinem Raum das klassische Gewerbe zugrunde geht und innovative Klein- und Mittelbetriebe sich nur zögerlich anpassen, der besuche die Gemeinde Visp im Oberwallis. Offiziell werden dort immer noch 6777 Einwohner (2008) verzeichnet, aber in Wirklichkeit dürften es gegen 8000 oder mehr sein. Der Grund ist die Lonza im Mittelpunkt eines neuen Chemie- und Pharmaclusters, der seit über zwei Jahren ein gewaltiges Wachstum aufweist. Auf den ersten Blick ist «Little Basel» im Süden der Schweiz ein grossartiges Ereignis, aber die wirtschaftlichen und sozialen Nebenwirkungen sind ebenso gewaltig wie die Erfolge der neu gebauten Pharmafirmen.

Verschoben, nicht verschwunden

Wer in Visp einen Handwerker sucht, wie sie bis vor Kurzem noch eine Selbstverständlichkeit waren, gibt meist bald auf. Schon ein gerissener Schlauch in der Spülmaschine löst die Anfahrt eines Fachmannes aus Bern aus, weil die schweizweit bekannte Firma im Oberwallis keinen Mitarbeiter mehr hat. Wer einen Schreiner sucht, wird vertröstet: «In drei Monaten haben wir wieder Material und Zeit.» Wer elektronisches Gerät reparieren möchte, eilt von Betrieb zu Betrieb, bis ihn zwei Fachleute aus dem fernen Thurgau erlösen, die nach Visp delegiert wurden, weil die einheimischen Mitarbeiter verschwunden sind.

Verschwunden sind alle diese Fachleute aus dem Gewerbe nicht. Sie arbeiten heute im Werk Visp der Lonza, wo wesentlich bessere Saläre für oft einfachere Tätigkeiten bezahlt werden, als die Gewerbe- und KMU-Firmen im Oberwallis bieten können.

Der Staat als Konkurrent

Das gleiche Bild zeigt sich schweizweit im Hotellerie- und Gastgewerbe, wo kurz vor dem Beginn der Wintersaison viele Tausend Mitarbeiter fehlen. Der Gründe gibt es viele. Über einen wird nicht gerne gesprochen: Der Fachkräftemangel beruht auch darauf, dass der Staat in der Form von Gemeinden, kantonalen Verwaltungen und Bundesbehörden laufend mehr Mitarbeiter an sich zieht. Und dies bekanntlich zu Salären, die weit über den marktüblichen Einkommen in der freien Wirtschaft liegen.

Hilfe von der Armee?

Sollen, ähnlich wie im Gesundheitswesen auch, das unter den Covid-Wellen fast zu ersticken droht, Angehörige des Schweizer Militärs als Mitarbeiter auf Zeit für die Privatwirtschaft freigegeben werden? Einerseits macht das VBS seit zwanzig Jahren Kampagnen, dass mehr Unteroffiziere und Offiziere von der Privatwirtschaft beschäftigt oder für das Militär freigestellt werden. Anderseits zeigen die Erfahrungen in vielen Gewerbe- und KMU-Firmen, dass Militärangehörige, die mehr als fünf Jahre Dienst geleistet haben, im Allgemeinen in der Privatwirtschaft kaum zu gebrauchen sind. Woran mag dies liegen? Die meisten Gewerbe- und KMU-Betriebe sind seit zwei Generationen auf Hochleistung getrimmt worden. Innovationen und intensives Marketing waren entscheidende Faktoren, dass sie im globalen Wettbewerb Bestand hatten. Die Mitarbeiter des Militärs zeigten sich zwar sehr ordentlich und einsatzwillig, waren aber zu defensiv, auf Verteidigung eingestellt, Risiken nicht gewohnt. Sie konnten nicht mithalten. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Lobbying statt Bürokratie

Was braucht das Gewerbe wirklich? Freiheit von der Bürokratie, die 700-seitige Anti-Unfall-Bibeln in Betriebe schickt, wo seit Jahrzehnten nie ein Unfall stattgefunden hat. Freiheit von Hunderten kleiner und grosser Reglementierungen, die von Beamten-Theoretikern ex Hochschule formuliert wurden, aber mit der Arbeitswirklichkeit wenig zu tun haben. Deshalb empfehle ich den Branchenverbänden, die oft in Routine erstarrt sind, ein Lobbying bei der Verwaltung, wie es der Schweizerische Bauernverband seit Jahren meisterlich betreibt. Zur Rettung vieler kleiner Firmen, subito bitte. Der Schweizerische Gewerbeverband nimmt seine Rolle als Dachverband der Schweizer Wirtschaft immer aktiver und erfolgreicher wahr.

Klaus J. Stöhlker

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