Nationalrat entscheidet sich für das kleinere Übel â es braucht aber eine strukturelle Reform der AHV
«Das Potenzial ist noch da»
MICHĂLE LISIBACH â Die neue Bildungsverantwortliche des Schweizerischen Gewerbeverbands ĂŒber die VerĂ€nderungen, die China seit der Pandemie in der sozialen Ăberwachung vorgenommen hat. Und ĂŒber die Chancen, die sich der Schweizer Wirtschaft im Reich der Mitte immer noch bieten.
Schweizerische Gewerbezeitung: Unter welchen UmstĂ€nden haben Sie sich in China aufgehalten und natĂŒrlich wo in China?
MichĂšle Lisibach: Ich hatte mich nach der Matura entschieden, Chinawissenschaften zu studieren. Und war dann natĂŒrlich im Zuge des Studiums immer wieder in China, hauptsĂ€chlich in Peking, aber natĂŒrlich auf Reisen auch in anderen Teilen des Landes. Nach dem Studium habe ich ein halbes Jahr lang auf der Schweizer Botschaft in Peking gearbeitet.
In Bezug auf die Pandemie: In welchen Zeitraum fÀllt Ihr Aufenthalt?
Ich bin Ende Januar 2020 das letzte Mal nach China geflogen, also gleich zu Beginn der Pandemie. TatsĂ€chlich bin ich mit einem der letzten FlĂŒge, die es zu diesem Zeitpunkt von Europa aus noch gab, nach China eingereist.
Wie ist die EinfĂŒhrung des Sozialkreditsystems verlaufen? Was haben Sie beobachtet?
Zu Beginn, also im Januar und Februar 2020, war das noch nicht wirklich koordiniert. Als ich zum Beispiel an meinem ersten Tag ins Hotel eingecheckt habe, kam die Frage: «Waren Sie in Wuhan?» War die Antwort Nein, so war alles gut. Vorausgesetzt, beim Fiebermessen war auch alles normal. SpĂ€ter haben sich die Kontrollen dann weiterentwickelt. Beim ersten System musste man per SMS einen QR-Code anfordern, der aufgrund der Handy-Daten anzeigte, wo man sich in den letzten 24 Stunden bewegt hatte. Daraus wurde geschlossen, ob man gefĂ€hrdet war, sich mit COVID-19 angesteckt zu haben. Das war noch relativ harmlos. SpĂ€ter wurde das System dann weiterentwickelt. Eine App, das Health -Kit, hat per GPS stĂ€ndig getrackt, wo man sich aufhĂ€lt und einem dann auf dieser Basis einen grĂŒnen, gelben oder roten QR-Code verpasst. Je nach Farbe durfte man sich frei bewegen oder musste sich isolieren.
Als AuslĂ€nder wurde uns geraten, die App nicht zu installieren. Am Anfang ging das noch, man konnte sich auch ohne das Health Kit noch einigermassen normal bewegen. Aber dann gegen Ende, als ich in die Schweiz zurĂŒckgekommen bin, konnte man fast nirgends mehr hin ohne diese App.
Anscheinend gibt es verschiedene Apps und Systeme in den verschiedenen Regionen Chinas âŠ
Ja. Ich war allerdings wĂ€hrend der ganzen Zeit immer in Peking. Denn es bestand stĂ€ndig die Gefahr, dass man unter UmstĂ€nden nicht mehr zurĂŒck nach Peking reisen durfte, wenn man sich irgendwo aufgehalten hatte, wo ein Infektionsherd aufgetreten war. Deswegen blieb ich immer in Peking. Aber in anderen StĂ€dten gab es andere Apps. Als ich zurĂŒck in die Schweiz kam, musste ich ĂŒber Shanghai fliegen, weil es keine direkte FlĂŒge von Peking aus gab. Als ich in Shanghai ankam, musste ich einen grĂŒnen QR-Code vorweisen. Als ich mein Health Kit aus Peking zeigte, wurde ich informiert, dass dieses hier nicht gĂŒltig sei. Shanghai hatte einen eigenen Code. Es war dann eine sehr komplizierte Angelegenheit, an diesen Shanghaier Code zu kommen. Und so hat dann praktisch jede Stadt ihr eigenes System aufgebaut.
Ist es heute noch so?
Ich hatte kĂŒrzlich Kontakt mit einer ehemaligen Arbeitskollegin. Sie hat mir erzĂ€hlt, man brauche diese Codes immer noch. Mittlerweile sind sie praktisch ĂŒberall das Eintritts-ticket: zum Einkaufen, um im Restaurant essen zu gehen, fĂŒrs Kino, fĂŒrs Fitnesscenter usw. Ich denke, es hat sich mittlerweile als Normalmodus eingebĂŒrgert. Die Leute haben sich daran gewöhnt, dass sie das Health Kit ĂŒberall brauchen.
Wie wirkt sich dieses System der sozialen Kontrolle auf das praktische Leben, das Einkaufen usw. aus? Was sind die praktischen Schwierigkeiten?
Man muss sich als AuslĂ€nder in China bewusst sein, dass es gewisse Themen gibt, ĂŒber die man in der Ăffentlichkeit nicht sprechen sollte. Und auch gewisses Verhalten, das man unterlassen sollte. Gewisse EinschrĂ€nkungen, wie zum Beispiel die Great Firewall, kann man zwar schon umgehen. Aber man ist sich immer bewusst, dass man nichts Kritisches recherchieren oder austauschen sollte. Solange man sich an dieses ungeschriebene Gesetz hĂ€lt, wird ein Auge zugedrĂŒckt, man kann ganz normal leben und fĂŒhlt sich kaum kontrolliert.
Hatten Sie Angst in solchen Situationen? Und vor was? Wie gingen Sie mit diesen Emotionen um?
Ich hatte persönlich selten das GefĂŒhl, eingeschrĂ€nkt zu sein. Nur einmal habe ich auf einer Reise ein GebĂ€ude mit dem Nationalwappen fotografiert. Da kamen plötzlich zwei Uniformierte mit Maschinengewehren ĂŒber die Strasse und haben mich aufgefordert, das Foto zu löschen. Da bekam ich dann doch ein bisschen Angst, weil mir auf einen Schlag so richtig bewusst wurde, dass man ĂŒberwacht wird. Sonst, im Alltag, bekommt man das eigentlich selten zu spĂŒren.
Wie reagierten die Menschen, die Sie in China getroffen haben, auf diese Situation der totalen Kontrolle?
Es ist sehr schwierig einzuschĂ€tzen. Ich habe auf der Botschaft gearbeitet. Da hat man logischerweise vor allem Kontakten mit anderen AuslĂ€ndern oder mit eher liberal denkenden Chinesen. Diese Leute sind von Natur aus eher kritisch und bewegen sich im Alltag auch vorsichtiger, da ihnen die Ăberwachung stĂ€rker bewusst ist. Aber beim chinesischen DurchschnittsbĂŒrger ist das anders. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wie diese Leute die Situation wahrnehmen. Chinesen sind grundsĂ€tzlich eher verschlossen. Es braucht eine sehr gute und lange Beziehung, bis sie sich einem anderen â und speziell einem AuslĂ€nder â gegenĂŒber öffnen. Ich hatte grundsĂ€tzlich immer den Eindruck, dass in China weniger Wert auf PrivatsphĂ€re gelegt wird. Daher stört man sich auch weniger an der Ăberwachung, als das bei uns im Westen der Fall wĂ€re.
Wie steht es in diesem Zusammenhang mit Humor?
Ja doch (lĂ€chelt), doch, den gibt es natĂŒrlich auch. Etwas typisch Chinesisches ist, dass man sich als StĂ€dter ĂŒber die «hinterwĂ€ldlerische» Landbevölkerung lustig macht. Und natĂŒrlich auch umgekehrt. Aber mittlerweile hat auch der westliche Humor in China Einzug gefunden, vor allem durch Filme, Medien und Literatur.
Und wie weiter jetzt mit China in dieser Situation?
Ich denke, in China ist die Bevölkerung viel eher bereit, die Kontrolle und Ăberwachung zu akzeptieren â zum Beispiel mit den COVID-Apps oder auch aktuell in Peking, wo wieder Lockdowns angesagt sind. Die Chinesen ertragen das viel leichter und auch viel lĂ€nger, als das bei uns im Westen der Fall wĂ€re. Aber wie lange das noch so weiter gehen wird, kann ich nicht sagen. AufstĂ€nde hat es auch in der Vergangenheit bereits gegeben. Ich denke, die aktuelle Situation ist vor allem ein Problem fĂŒr die Zusammenarbeit mit dem Westen, die China, trotz verschiedener neuer Strategien, weiterhin beibehalten möchte. Dadurch, dass man kaum noch frei ein- und ausreisen kann und die GeschĂ€ftstĂ€tigkeiten in den letzten zwei Jahren massiv eingeschrĂ€nkt wurden, haben die Beziehungen zum Westen â diplomatisch sowie auch wirtschaftlich â grossen Schaden genommen.
Wie schÀtzen Schweizer KMU, die dort weiterhin tÀtig sind, die Situation ein?
Es gibt ganz unterschiedliche Geschichten und Situationen. Es kommt sicherlich darauf an, wie lange die Firma schon in China aktiv ist, wie ihre Mitarbeiter- und Vertriebsstruktur aufgebaut ist. Viele Firmen, die beispielsweise nur Bauteile aus China bezogen, oder nur Produkte nach China exportiert und keine eigene Basis in China hatten, haben sich mittlerweile zurĂŒckgezogen, haben auf anderen MĂ€rkte umgesattelt. Andere Firmen, die etablierter sind und eigene Fabriken, Verkaufsstellen usw. haben, passen sich an, rekrutieren chinesische Mitarbeiter oder diversifizieren ihre Lieferketten.
Wie beurteilen Sie persönlich mögliche Entwicklungen in dieser Situation?
Ich glaube nach wie vor an die Chancen und an das Potenzial des chinesischen Markts. Sicherlich sieht das nicht in jeder Branche gleich aus. Manche können immer noch viel abschöpfen, wĂ€hrend bei anderen die HĂŒrden enorm gestiegen sind. Ich habe allerdings Hoffnung, dass die Wirtschaftsbeziehungen weiterhin bestehen bleiben. Besonders, da ja auch China grosses Interesse am Schweizer Markt hat. Aber es wird natĂŒrlich immer schwieriger. Gerade fĂŒr kleine Firmen, die in den chinesischen Markt einsteigen möchten, braucht es viel Kapital und eine intensive Auseinandersetzung mit der Marktsituation in China, bevor sie diesen Schritt wagen können. Das war schon immer so. Durch LieferengpĂ€sse, EinreisebeschrĂ€nkungen usw. ist das heute aber verstĂ€rkt der Fall.
Interview: François Othenin-Girard
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