Publiziert am: 01.07.2022

«Das Potenzial ist noch da»

MICHÈLE LISIBACH – Die neue Bildungsverantwortliche des Schweizerischen Gewerbeverbands über die Veränderungen, die China seit der Pandemie in der sozialen Überwachung vorgenommen hat. Und über die Chancen, die sich der Schweizer Wirtschaft im Reich der Mitte immer noch bieten.

Schweizerische Gewerbezeitung: Unter welchen Umständen haben Sie sich in China aufgehalten und natürlich wo in China?

Michèle Lisibach: Ich hatte mich nach der Matura entschieden, Chinawissenschaften zu studieren. Und war dann natürlich im Zuge des Studiums immer wieder in China, hauptsächlich in Peking, aber natürlich auf Reisen auch in anderen Teilen des Landes. Nach dem Studium habe ich ein halbes Jahr lang auf der Schweizer Botschaft in Peking gearbeitet.

In Bezug auf die Pandemie: In welchen Zeitraum fällt Ihr Aufenthalt?

Ich bin Ende Januar 2020 das letzte Mal nach China geflogen, also gleich zu Beginn der Pandemie. Tatsächlich bin ich mit einem der letzten Flüge, die es zu diesem Zeitpunkt von Europa aus noch gab, nach China eingereist.

Wie ist die Einführung des Sozialkreditsystems verlaufen? Was haben Sie beobachtet?

Zu Beginn, also im Januar und Februar 2020, war das noch nicht wirklich koordiniert. Als ich zum Beispiel an meinem ersten Tag ins Hotel eingecheckt habe, kam die Frage: «Waren Sie in Wuhan?» War die Antwort Nein, so war alles gut. Vorausgesetzt, beim Fiebermessen war auch alles normal. Später haben sich die Kontrollen dann weiterentwickelt. Beim ersten System musste man per SMS einen QR-Code anfordern, der aufgrund der Handy-Daten anzeigte, wo man sich in den letzten 24 Stunden bewegt hatte. Daraus wurde geschlossen, ob man gefährdet war, sich mit COVID-19 angesteckt zu haben. Das war noch relativ harmlos. Später wurde das System dann weiterentwickelt. Eine App, das Health -Kit, hat per GPS ständig getrackt, wo man sich aufhält und einem dann auf dieser Basis einen grünen, gelben oder roten QR-Code verpasst. Je nach Farbe durfte man sich frei bewegen oder musste sich isolieren.

Als Ausländer wurde uns geraten, die App nicht zu installieren. Am Anfang ging das noch, man konnte sich auch ohne das Health Kit noch einigermassen normal bewegen. Aber dann gegen Ende, als ich in die Schweiz zurückgekommen bin, konnte man fast nirgends mehr hin ohne diese App.

Anscheinend gibt es verschiedene Apps und Systeme in den verschiedenen Regionen Chinas …

Ja. Ich war allerdings während der ganzen Zeit immer in Peking. Denn es bestand ständig die Gefahr, dass man unter Umständen nicht mehr zurück nach Peking reisen durfte, wenn man sich irgendwo aufgehalten hatte, wo ein Infektionsherd aufgetreten war. Deswegen blieb ich immer in Peking. Aber in anderen Städten gab es andere Apps. Als ich zurück in die Schweiz kam, musste ich über Shanghai fliegen, weil es keine direkte Flüge von Peking aus gab. Als ich in Shanghai ankam, musste ich einen grünen QR-Code vorweisen. Als ich mein Health Kit aus Peking zeigte, wurde ich informiert, dass dieses hier nicht gültig sei. Shanghai hatte einen eigenen Code. Es war dann eine sehr komplizierte Angelegenheit, an diesen Shanghaier Code zu kommen. Und so hat dann praktisch jede Stadt ihr eigenes System aufgebaut.

Ist es heute noch so?

Ich hatte kürzlich Kontakt mit einer ehemaligen Arbeitskollegin. Sie hat mir erzählt, man brauche diese Codes immer noch. Mittlerweile sind sie praktisch überall das Eintritts-ticket: zum Einkaufen, um im Restaurant essen zu gehen, fürs Kino, fürs Fitnesscenter usw. Ich denke, es hat sich mittlerweile als Normalmodus eingebürgert. Die Leute haben sich daran gewöhnt, dass sie das Health Kit überall brauchen.

Wie wirkt sich dieses System der sozialen Kontrolle auf das praktische Leben, das Einkaufen usw. aus? Was sind die praktischen Schwierigkeiten?

Man muss sich als Ausländer in China bewusst sein, dass es gewisse Themen gibt, über die man in der Öffentlichkeit nicht sprechen sollte. Und auch gewisses Verhalten, das man unterlassen sollte. Gewisse Einschränkungen, wie zum Beispiel die Great Firewall, kann man zwar schon umgehen. Aber man ist sich immer bewusst, dass man nichts Kritisches recherchieren oder austauschen sollte. Solange man sich an dieses ungeschriebene Gesetz hält, wird ein Auge zugedrückt, man kann ganz normal leben und fühlt sich kaum kontrolliert.

Hatten Sie Angst in solchen Situationen? Und vor was? Wie gingen Sie mit diesen Emotionen um?

Ich hatte persönlich selten das Gefühl, eingeschränkt zu sein. Nur einmal habe ich auf einer Reise ein Gebäude mit dem Nationalwappen fotografiert. Da kamen plötzlich zwei Uniformierte mit Maschinengewehren über die Strasse und haben mich aufgefordert, das Foto zu löschen. Da bekam ich dann doch ein bisschen Angst, weil mir auf einen Schlag so richtig bewusst wurde, dass man überwacht wird. Sonst, im Alltag, bekommt man das eigentlich selten zu spüren.

Wie reagierten die Menschen, die Sie in China getroffen haben, auf diese Situation der totalen Kontrolle?

Es ist sehr schwierig einzuschätzen. Ich habe auf der Botschaft gearbeitet. Da hat man logischerweise vor allem Kontakten mit anderen Ausländern oder mit eher liberal denkenden Chinesen. Diese Leute sind von Natur aus eher kritisch und bewegen sich im Alltag auch vorsichtiger, da ihnen die Überwachung stärker bewusst ist. Aber beim chinesischen Durchschnittsbürger ist das anders. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wie diese Leute die Situation wahrnehmen. Chinesen sind grundsätzlich eher verschlossen. Es braucht eine sehr gute und lange Beziehung, bis sie sich einem anderen – und speziell einem Ausländer – gegenüber öffnen. Ich hatte grundsätzlich immer den Eindruck, dass in China weniger Wert auf Privatsphäre gelegt wird. Daher stört man sich auch weniger an der Überwachung, als das bei uns im Westen der Fall wäre.

Wie steht es in diesem Zusammenhang mit Humor?

Ja doch (lächelt), doch, den gibt es natürlich auch. Etwas typisch Chinesisches ist, dass man sich als Städter über die «hinterwäldlerische» Landbevölkerung lustig macht. Und natürlich auch umgekehrt. Aber mittlerweile hat auch der westliche Humor in China Einzug gefunden, vor allem durch Filme, Medien und Literatur.

Und wie weiter jetzt mit China in dieser Situation?

Ich denke, in China ist die Bevölkerung viel eher bereit, die Kontrolle und Überwachung zu akzeptieren – zum Beispiel mit den COVID-Apps oder auch aktuell in Peking, wo wieder Lockdowns angesagt sind. Die Chinesen ertragen das viel leichter und auch viel länger, als das bei uns im Westen der Fall wäre. Aber wie lange das noch so weiter gehen wird, kann ich nicht sagen. Aufstände hat es auch in der Vergangenheit bereits gegeben. Ich denke, die aktuelle Situation ist vor allem ein Problem für die Zusammenarbeit mit dem Westen, die China, trotz verschiedener neuer Strategien, weiterhin beibehalten möchte. Dadurch, dass man kaum noch frei ein- und ausreisen kann und die Geschäftstätigkeiten in den letzten zwei Jahren massiv eingeschränkt wurden, haben die Beziehungen zum Westen – diplomatisch sowie auch wirtschaftlich – grossen Schaden genommen.

Wie schätzen Schweizer KMU, die dort weiterhin tätig sind, die Situation ein?

Es gibt ganz unterschiedliche Geschichten und Situationen. Es kommt sicherlich darauf an, wie lange die Firma schon in China aktiv ist, wie ihre Mitarbeiter- und Vertriebsstruktur aufgebaut ist. Viele Firmen, die beispielsweise nur Bauteile aus China bezogen, oder nur Produkte nach China exportiert und keine eigene Basis in China hatten, haben sich mittlerweile zurückgezogen, haben auf anderen Märkte umgesattelt. Andere Firmen, die etablierter sind und eigene Fabriken, Verkaufsstellen usw. haben, passen sich an, rekrutieren chinesische Mitarbeiter oder diversifizieren ihre Lieferketten.

Wie beurteilen Sie persönlich mögliche Entwicklungen in dieser Situation?

Ich glaube nach wie vor an die Chancen und an das Potenzial des chinesischen Markts. Sicherlich sieht das nicht in jeder Branche gleich aus. Manche können immer noch viel abschöpfen, während bei anderen die Hürden enorm gestiegen sind. Ich habe allerdings Hoffnung, dass die Wirtschaftsbeziehungen weiterhin bestehen bleiben. Besonders, da ja auch China grosses Interesse am Schweizer Markt hat. Aber es wird natürlich immer schwieriger. Gerade für kleine Firmen, die in den chinesischen Markt einsteigen möchten, braucht es viel Kapital und eine intensive Auseinandersetzung mit der Marktsituation in China, bevor sie diesen Schritt wagen können. Das war schon immer so. Durch Lieferengpässe, Einreisebeschränkungen usw. ist das heute aber verstärkt der Fall.

Interview: François Othenin-Girard

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