Publiziert am: 04.09.2015

Das Ringen um die Gerechtigkeit

Tribüne

Glaubt man den Sozialdemokraten aller Parteien, wäre eine liberale Wirtschaftsordnung zwar wohlstandsmaximierend, aber «ungerecht», denn die Verteilung der Einkommen und Vermögen fiele ungleich aus. Es brauche daher das Korrektiv einer (mehr oder weniger kräftigen) Dosis politischer Interventionen, damit die freie Marktwirtschaft im Dienste aller wirke. Das nennen die Sozialdemokraten aller Couleurs dann «soziale Gerechtigkeit» oder «Verteilungsgerechtigkeit».

In unserer Wohlstandsgesellschaft, in der viele Annehmlichkeiten als gegeben erscheinen, erhält der Gerechtigkeitsdiskurs eine zunehmende Bedeutung. Wenn materielle Bedürfnisse weitgehend und manchmal bis zum Überdruss befriedigt sind, werden moralische Dimensionen des Wirtschaftens immer wichtiger.

Das Bewusstsein für Gerechtigkeit ist grundsätzlich zu begrüssen, denn eine Gesellschaft kann ohne ein ethisches Fundament nicht funktionieren. Werte wie Ehrlichkeit, Achtung vor fremdem Eigentum oder Zuverlässigkeit sichern ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben. Gemeinsame Werte stiften Vertrauen: Dass in der Schweiz immer noch Rechnungen mit 30 Tagen Zahlungsfrist verschickt werden, ist nicht selbstverständlich. Es setzt das intakte Gerechtigkeitsempfinden der grossen Mehrzahl der Wirtschaftsteilnehmer voraus.

Gerade weil der hohe Wert der Gerechtigkeit jedoch unumstritten ist, wird der Begriff von Demagogen missbraucht, um einer intrinsisch unethischen Politik den Anschein der Legitimität zu verleihen. Mit der «Verteilungsgerechtigkeit» oder der «sozialen Gerechtigkeit» werden im politischen Prozess tatsächlich Ungerechtigkeiten legalisiert. Einkommen und Vermögen werden denen genommen, die sie ehrlich verdient haben, und an jene verteilt, die nichts dazu beitrugen. Jenseits der Politik heisst dieses Vorgehen schlicht «Diebstahl». Im sozialdemokratischen Jargon wird dies aber wie durch Magie zur «Gerechtigkeit».

Selbstverständlich verstossen nicht alle Verteilungsformen gegen die Moral: Umverteilung im Sinne des vertraglichen Austausches – beispielsweise von Arbeit gegen einen Lohn – oder als versicherungsmathematisch abgesicherte Vorsorge, wie auch freiwillige Solidarität durch Spenden an in Not Geratene oder für die Finanzierung gemeinnütziger Institutionen erfüllt tatsächlich das Kriterium der Gerechtigkeit. Diese Umverteilung respektiert die Rechte, die Leistung und den Willen der Individuen. Politische Zwangsumverteilung zum Zweck einer willkürlichen materiellen Gleichheit hingegen ist institutionalisierte Ungerechtigkeit, ganz gleich, unter welchem Banner sie erfolgt.

Das sozialdemokratische Verständnis der Gerechtigkeit mag gelegentlich guten Absichten entspringen. Doch gerade in der Politik ist der Weg zur Hölle gepflastert mit guten Absichten. Im Fall der «Verteilungsgerechtigkeit» mag manchen Menschen durchaus kurzfristig und oberflächlich geholfen werden, mittel- und langfristig aber werden die individuellen Anreize zur Arbeit und zum Sparen zerstört oder mindestens geschwächt, und zwar sowohl bei den Empfängern der staatlichen Unterstützung wie auch bei den Steuerzahlern, die dafür aufkommen müssen. Investoren, die Arbeitsplätze schaffen und die Lebensstandards aller durch Produktivitätsgewinne in die Höhe treiben, werden demotiviert. Das Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden wird langsam, aber sicher aufgezehrt. Verantwortlichkeiten werden verwischt, mündige Bürger werden zu Subventionsjägern – alle versuchen, auf Kosten aller zu leben.

Aufgrund dieser Irreführung bleiben etwa nötige Reformen kollektivistischer Umverteilungsprogramme, wie der AHV, in der Schweiz ungewiss. Der uferlose Wohlfahrtsstaat, der zu Staats- und Wirtschaftskrisen führt, beruht auf einer moralischen Verwahrlosung. Griechenland ist hier ein erhellendes Beispiel. Die Ungerechtigkeit der «sozialen Gerechtigkeit» ist daher aus ökonomischer ebenso wie aus moralischer Sicht schädlich. Sie postuliert einen Konflikt zwischen Freiheit, Fortschritt, Wohlstand und Gerechtigkeit, wo gar keiner existiert. Die Achtung vor individuellen Eigentumsrechten erzeugt gerechten Wohlstand für alle – ohne staatliche Eingriffe.

* Pierre Bessard ist Direktor des Liberalen Instituts

Die Tribüne-Autoren geben ihre eigene Meinung wieder; diese muss sich nicht mit jener des sgv decken.

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