Publiziert am: 02.07.2021

Der, die, das arme Mensch

Die Welt und die Schweiz sind aus dem Gleichgewicht ­geraten; und dies nicht nur wegen Covid. Es findet eine schleichende Radikalisierung statt. Unter dem Deckmantel von Pluralismus, Rede- und Meinungsfreiheit, Minderheitenrechten wird in den meisten demokratischen Staaten die liberale Ordnung ausgenutzt und pervertiert. Die öffentliche Hand sowie privatwirtschaftliche Unternehmen werden immer mehr angefeindet, gehackt und stillgelegt – so wie es vermutlich kürzlich von Ökoterroristen mit einer Ölpipeline geschehen ist. Die Politik schaut hilflos zu, die Polizei und Rechtsprechung sind blockiert, denn unabhängig davon, was sie machen, es wird von den Medien entweder als zu lasch oder als zu streng gebrandmarkt. Schlimmer noch, die Medien verschaffen diesen Aktivisten auch noch Öffentlichkeit.

Viele Minderheiten begehren heute auf und fordern Recht auf Gehör. Vor allem fordern sie Massnahmen gegen Diskriminierung. Wir erleben dies tagtäglich im Sprachgebrauch. «Der arme Mensch», wie es bis heute richtig hiess, ist nicht genderneutral. Politisch korrekt, müssten wir jetzt eigentlich «der/die/* arme Mensch» sagen, um jegliches Macho-Gehabe abzulegen. Und wenn dies nicht möglich sein sollte, müssten wir die deutsche Sprache so weit abändern, dass es von nun an «das arme Mensch» heisst.

Aktuelles Beispiel: Die Zürcher Stadtregierung hat beschlossen, Strassen- und Häuserbezeichnungen, welche einen kolonialen Hintergrund haben, mittels Schildern zu «kontextualisieren». Offensichtlich sollen wir uns damit besser fühlen und eine grosse Diskriminierungslücke schliessen. Kurzum: Wir sind mittlerweile politisch so korrekt, dass der Sprachgebrauch moralischer als unser Handeln ist.

Wer nicht in diesen beschriebenen politischen Mainstream passt, wird angefeindet, erhält Drohungen und erlebt einen Shitstorm in den sozialen Medien. Wahlresultate werden nicht mehr akzeptiert und nach einer verlorenen Wahl werden noch drastischere Vorlagen angekündigt.

Es stellt sich die Frage, ob mit all diesem Pluralismus überhaupt noch eine Marschrichtung und vor allem eine Identität möglich sind. Denn eine Marschrichtung wäre in der heutigen Zeit von grosser Bedeutung. Man kann über alles diskutieren, streiten und vor allem anderer Meinung sein. Aber diese Diskussionen dürfen nicht den politischen Alltag beherrschen. Wir verzetteln uns und verlieren darüber die wichtigen Weichenstellungen für die Zukunft. Es müssen immer Entscheidungen getroffen – egal ob sie allen passen oder nicht – und konsequent danach gehandelt werden. So verhält es sich überall wo Menschen zusammen sind, in Familien, Vereinen und Unternehmen. Ich sehe keinen Grund, weshalb ein Staat nicht auch so funktionieren sollte.

Mit symbolorientiertem Gutmenschentum und linker Pseudoliberalität werden wir die grossen Herausforderungen dieses Planeten wie Klimaerwärmung, das weltweite Bevölkerungswachstum von knapp 25 Prozent in den nächsten 25 Jahren und den damit verbundenen Ressourcenverbrauch nicht lösen. Auch wenn dies heute nicht populär ist, unser Land braucht wieder eine echte liberale Denkhaltung und lösungsorientierte Diskussion. Anstelle von Geboten und Verboten sollten wir auf Innovation, Fortschritt und Wettbewerbsfähigkeit setzen. Sich auf Nebenkriegsschauplätzen zu tummeln oder sogar zu verweilen und jedem und allem mehr Gehör zu verschaffen, ist dafür nicht zielführend.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch ich stehe dafür ein, dass jeder seine Meinung frei äussern und dafür einstehen darf. Doch wenn dies auf Kosten der demokratischen Mehrheit geschieht, marschieren wir in die falsche Richtung. Denn die Einstellungen und Wünsche der Mehrheit sind nicht weniger wert als jene der Minderheiten. Unser Hauptfokus muss lauten: Wie können wir alle den Wohlstand in der Schweiz auch für die nächsten Generationen sichern und durch Fortschritt und Innovationen einen Beitrag zur Lösung der globalen Herausforderungen leisten?

Wenn wir dies nicht bald in Angriff nehmen, wird es bald keine Rolle mehr spielen, ob es der, die oder das arme Mensch heisst.

* Lionel Schlessinger ist Inhaber und CEO der Monopol Colors und Präsident des Verbandes der Schweizerischen Lack- und Farbenindustrie.

www.monopol-colors.ch

www.vslf.ch

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