Publiziert am: 06.11.2020

«Die Initiative betrifft auch KMU»

BUNDESRÄTIN KARIN KELLER-SUTTER – «Die meisten Schweizer Unternehmen verhalten sich verantwortungsvoll und halten sich an die Regeln», sagt die Justizministerin. Bundesrat und Parlament lehnen die Konzern­ver­ant­wortungs­initiative (KVI) ab; die EJPD-Chefin wirbt für den indirekten Gegenvorschlag des Parlaments.

Schweizerische Gewerbezeitung: Die orangen Fahnen, die für die Konzernverantwortungsinitiative werben, hängen seit einer gefühlten Ewigkeit an Gartentoren, von Balkonen, Fenstersimsen oder Kirchtürmen. Weshalb bewegt das Thema der Verantwortung der Wirtschaft derart viele Menschen?

Karin Keller-Sutter: Weil Verantwortung etwas Selbstverständliches ist. Deshalb teilt der Bundesrat auch das Ziel der Initiative: Schweizer Unternehmen sollen Menschenrechte und Umwelt auch im Ausland respek­tieren. Und die meisten Schweizer Unternehmen verhalten sich verantwortungsvoll und halten sich an die Regeln. Die Initiative ist aber zu radikal. Sie ist der falsche Weg, um diese Ziele zu erreichen und benachteiligt Schweizer Firmen.

Die Initiative sei eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sagen die Befürworter. Es gehe nicht länger an, dass Grosskonzerne rechtliche Schlupflöcher ausnützten und sich dadurch Vorteile verschafften. Trifft das nicht zu?

Es ist selbstverständlich, dass unsere Unternehmen Verantwortung übernehmen, unabhängig davon, wo sie tätig sind. Sie haften heute schon. Mit der KVI würden sie aber neu auch für andere haften. Ich habe schon als Kind gelernt, dass ich für eigene Fehler geradestehen muss. Kann ich aber auch die Verantwortung für die Fehler von anderen übernehmen?

Der Bundesrat anerkennt aber den Handlungsbedarf und unterstützt deshalb den indirekten Gegenvorschlag des Parlaments. Auch der Gegenvorschlag nimmt die Unternehmen deutlich stärker in die Pflicht als heute und setzt unter anderem bei der Kinderarbeit an. Das war mein persönliches Anliegen. Mit dem Gegenvorschlag müssen die Unternehmen unter anderem künftig dafür sorgen, dass ihre ganze Lieferkette frei von Kinderarbeit ist. In manchen Bereichen geht der Gegenvorschlag sogar noch weiter als die Initiative. Unternehmen müssten etwa auch über Korruptionsrisiken berichten. Aber der Gegenvorschlag verzichtet auf die schädlichen Elemente der Initiative, insbesondere auf die neue Haftungsnorm.

Mit der breiten Sympathie für die Initiative kommt auch ein gewisses Misstrauen gegenüber den Konzernen und ihren Vertretern zum Tragen. Haben Sie Verständnis für diese Gemütslage, und woher stammt sie?

Bei der sogenannten Konzernverantwortungsinitiative geht es nicht um Konzerne, sondern um «Unternehmen». So steht es klar im Initiativtext. Es geht also bei der Abstimmung nicht darum, ein Zeichen für oder gegen Schweizer Konzerne zu setzen. Die sog. KVI betrifft grundsätzlich alle Schweizer Unternehmen. Mit ihrer Annahme würden daher auch viele KMU gegenüber ihrer ausländischen Konkurrenz benachteiligt.

Gerade in KMU-Kreisen kommt die Initiative weitherum gut an. Skandale von Grossfirmen schadeten dem Ruf der Schweiz, wird argumentiert. Die KVI schaffe «gleich lange Spiesse» und stelle sicher, dass Grosskonzerne nicht einen weiteren Wettbewerbsvorteil gegenüber KMU hätten. Verstehen Sie diese Argumentation?

Ich habe einen anderen Eindruck. Ich höre und lese von zahlreichen KMU, dass sie die Initiative ablehnen und sich vor den Folgen fürchten. Wie gesagt: Wer denkt, dass die Initiative nur Konzerne betrifft, irrt. Der Initiativtext lässt nur bei der Sorgfaltsprüfungspflicht Spielraum für KMU, falls sie geringe Risiken bei den Menschenrechten und der Umwelt aufweisen. Was aber gern vergessen geht: Alle KMU sind auf einen guten Wirtschaftsstandort Schweiz angewiesen. Grosse und Kleine profitieren voneinander. Zu Hause im Gewerbebetrieb meiner Eltern habe ich gelernt, dass es uns nur gut ging, wenn auch andere Erfolg hatten.

«die kvi trifft alle Unternehmen, nicht bloss die Konzerne.»

Die Wirtschaft darf sich nicht auseinanderdividieren lassen. Wir sind ein Land und eine Volkswirtschaft. Die Initiative sorgt auch nicht für gleich lange Spiesse, im Gegenteil: Sie benachteiligt Schweizer Unternehmen gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten, weil es in keinem anderen Land ein Gesetz mit einer derartigen Haftung gibt. Wie gesagt: Bereits heute haftet grundsätzlich jedes Unternehmen in dem Land, wo es Schaden anrichtet. Aber es haftet selber und nach dem Recht vor Ort. Gerade kürzlich wurde eine Tochtergesellschaft eines Schweizer Unternehmens wegen fataler Luftverschmutzungen in Sambia verurteilt. Die Initiative aber verlangt, dass Schweizer Unternehmen neu auch für Schäden aufkommen, die eine Tochtergesellschaft oder ein wirtschaftlich abhängiger Lieferant im Ausland verursacht hat, auch wenn sie rechtlich eigenständig sind. Das wäre ein internationaler Alleingang.

Das Thema zieht viele Unter­nehmer und Politiker – bis weit in die bürgerlichen Reihen – in seinen Bann. Sie setzen sich mit grossen finanziellen Mitteln für die Initiative ein. Liegen sie alle völlig falsch?

Wir sind uns alle einig: Unternehmen müssen Verantwortung übernehmen für Mensch und Umwelt. Die Initiative schiesst aber über das Ziel hinaus. Der Bundesrat und das Parlament wollen mit dem Gegenvorschlag einen anderen Weg gehen, um diese Ziele zu erreichen: Der Gegenvorschlag nimmt die Anliegen ernst. Im Gegensatz zur Initiative ermöglicht er aber eine vernünftige und international abgestimmte Lösung.

Ein Parteikollege von Ihnen, der ehemalige Tessiner FDP-Ständerat Dick Marty, engagiert sich an vorderster Front für die KVI und glaubt, freiwillige Massnahmen reichten nicht aus, damit sich alle Konzerne an die Menschenrechte halten oder minimale Umweltstandards respektieren würden. Reicht Freiwilligkeit hier tatsächlich nicht?

Schon heute handeln die allermeisten Schweizer Unternehmen verantwortungsvoll. Und Unternehmen haften schon heute für Schäden, die sie verursachen. Der Bundesrat will aber die Unternehmen auch stärker in die Pflicht nehmen und unterstützt deshalb den Gegenvorschlag des Parlaments. Der Gegenvorschlag verlangt, dass Unternehmen über die Risiken ihrer Geschäftstätigkeit für Mensch und Umwelt und die Massnahmen dagegen Bericht erstatten. Tun sie das nicht, werden sie mit bis zu 100 000 Franken gebüsst. Die Berichterstattungspflicht schafft damit auch klar mehr Transparenz. Man darf die Konsumenten und Investoren nicht unterschätzen. Das wichtigste Gut der Unternehmen ist ihre Reputation. Kommen Firmen in den Dunstkreis von Ausbeutung oder Umweltverschmutzung, steigen Investoren aus und Konsumenten kaufen die Produkte nicht mehr.

Bei Kinderarbeit und Konfliktmineralien ist der Gegenvorschlag gleich streng wie die Initiative. Der Gegenvorschlag verzichtet aber auf eine neue Haftungsnorm. Er ist ausgewogener und international abgestimmt.

«KMU sind ausgenommen», sagen die Initianten, die KVI gelte ausschliesslich für Grosskonzerne mit Sitz in der Schweiz. Was wären die Folgen der Initiative für Schweizer KMU?

Das stimmt nicht. Die Initiative betrifft grundsätzlich alle Unternehmen, also auch die KMU. Das kann zum Beispiel ein Biokaffeeröster sein, der den Kaffee direkt bei ausgewählten Produzenten in Vietnam bezieht. Er muss dann aufzeigen können, dass seine Lieferanten vor Ort alle Standards bezüglich Menschenrechten und Umwelt einhalten. Oder ein mittelgrosser Baumwollhändler, der aus verschiedenen Staaten Ware bezieht, und vielleicht Hunderte Lieferanten hat. Da ist es auch mit einem immensen Aufwand gar nicht möglich, in der ganzen Lieferkette zu garantieren, dass alle Sorgfaltspflichten eingehalten werden. Das würde ein KMU überfordern; es ist aber auch unrealistisch, dies zu garantieren.

«bei Kinderarbeit und Konfliktmineralien ist der Gegenvorschlag gleich streng wie die initiative.»

Kann die Initiative in armen Ländern tatsächlich zu einer Verbesserung beitragen, wie die Initianten sagen, oder schadet sie, wie die Gegner meinen, eher dem Engagement der Schweizer Wirtschaft im Ausland – mit Folgen für die dortigen Arbeitsplätze?

Schweizer Unternehmen investieren in armen Ländern, schaffen Arbeitsplätze und bilden Leute aus. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung. Das Umfeld ist aber teilweise schwierig, und es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alle Risiken in der ganzen Lieferkette zu kontrollieren. Sie sind also schon heute hohen Reputationsrisiken ausgesetzt. Kommen mit der Initiative noch neue Haftungsrisiken dazu, wird dies im unternehmerischen Entscheid berücksichtigt werden müssen. Ziehen sich Schweizer Firmen in der Folge aus diesen Ländern zurück, kann man sich fragen, wer dann in die Lücke springt.

Befürworter verlangen eine Beweislastumkehr; Unternehmen müssten ihre Unschuld beweisen. Die Gegner warnen vor einem Erpressungspotenzial für Schweizer Firmen. Wer hat Recht?

Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: Kommt es zu einer Klage vor einem Schweizer Gericht, müsste der Kläger zwar unter anderem beweisen, dass ihm wegen des Fehlverhaltens beispielsweise eines Zulieferers ein Schaden erstanden ist und dass der Zulieferer vom Schweizer Unternehmen kontrolliert wird. Er müsste aber nicht beweisen, dass das beklagte Schweizer Unter­nehmen seine Sorgfaltspflicht nicht erfüllt hat. Vielmehr wäre es am Schweizer Unternehmen selber, zu beweisen, dass es eine genügende Sorgfalt angewendet hat, um sich aus der Haftung wieder zu befreien. In Frankreich ist das klar anders: Dort muss der Kläger beweisen, dass das Unternehmen nicht sorgfältig genug war und darum der Schaden entstanden ist. Das ist eine ganz andere Ausgangslage.

International agierende NGOs wie etwa der WWF oder Greenpeace sind mit Konzernen vergleichbar; dennoch stehen sie nicht im Zentrum der KVI. Ein Fehler?

Auch NGOs kennen natürlich aus eigener Erfahrung die Schwierig­keiten, mit denen man konfrontiert sein kann, wenn man in armen und konfliktreichen Ländern tätig ist. Sie wissen auch, dass sich Risiken wie etwa Korruption nie ganz ausschliessen lassen. Warum sie nicht von der KVI erfasst werden sollen, das müssten Sie aber die Initianten der Initiative fragen.

Sie selbst und auch der Bundesrat und das Parlament plädieren für ein Nein zur Initiative. Sie sagen: Ein Nein zur Initiative ist ein Ja zum Gegenvorschlag. Was ist an letzterem besser?

Wir holen mit dem Gegenvorschlag nach, was heute nötig ist: Wir machen den Schritt weg von der Freiwilligkeit und nehmen Schweizer Unternehmen gesetzlich in die Pflicht. Er sorgt für mehr Transparenz, für mehr Schutz von Mensch und Umwelt, aber er setzt auf Dialog statt auf Klagen. Und er stellt sicher, dass Schweizer Unternehmen gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten weder bevorteilt noch benachteiligt sind. Das ist wichtig, gerade auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie diesen. Ich sage es so: Der Gegenvorschlag spricht Herz und Verstand an.

Interview: Gerhard Enggist

sgv sagt nein zur KVI

Der Schweizerische Gewerbeverband lehnt die Konzernverantwortungsinitiative ab. Die Schweizerische Gewerbekammer, das Parlament des sgv, hat die entsprechende Parole an ihrer Sitzung in Freiburg beschlossen. Die Initiative sei aus ordnungspolitischer Sicht problematisch, fand die «Kammer». Sie würde einen Alleingang der Schweiz darstellen, in dem Beweislastumkehr und Lieferkettenregulierung neu Eingang in die Schweizer Gesetzgebung fänden.

www.sgv-usam.ch

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