Publiziert am: 03.04.2020

Dringend mehr Eigenverantwortung

GESUNDHEITSWESEN – «Corona» zeigt die Verwundbarkeit des Gesundheitswesens auf. Massnahmen beim Patienten sind effizienter als staatliche Regelungen. Soll der «Konsum» von Gesundheitsleistungen gebrochen werden, geht es nicht ohne Opfer der Versicherten.

CoViD-19 hat der Bevölkerung die Verwundbarkeit unseres Gesundheitssystems vor Augen geführt. Trotz hoher qualitativer Leistungen haben wir uns bis anhin vornehmlich über die zunehmenden Krankenkassenprämien aufgeregt. Auf Kantons- und Bundesebene sucht die Politik denn auch nach Kosteneinsparungen. Selbstverständlich unter Einhaltung der hohen Qualität.

Nun erleben wir zum ersten Mal, dass die Nachfrage zum Überleben das Angebot an Heilungsstätten übertrifft. Wenn es um Leben und Tod geht, ist sich jeder selbst der Nächste. Jeder erhebt Anspruch auf die beste Behandlung, koste es, was es wolle.

Kosten? Was solls!

Noch vor wenigen Wochen kritisierten die Medien die hohen Gesundheitskosten. Nun wird lauthals nach mehr Spitalbetten geschrien. Es gäbe zu wenig Mundschutz, zu wenige Atemgeräte, zu wenige Pflegende. Die Vorsorge sei vernachlässigt worden. Der Staat greift mit Armee­einsatz ein. Kostenüberlegungen, Spitalschliessungen, ambulant vor stationär – das alles spielt plötzlich keine Rolle mehr. Weniger Abhängigkeit von Importen, ja zurück zur Autarkie in lebensnotwendigen Bereichen verlangen die Kritiker. Was gilt nun?

Teure und komplizierte Vorschläge zur Kostensenkung

Gemäss Umfragen steht neben der Altersvorsorge nach wie vor das Gesundheitswesen an oberster Stelle der Besorgnis der Bevölkerung. Das hat denn auch die Parteien just vor den Wahlen zum Handeln angeregt. SP und CVP haben Initiativen gestartet und nun eingereicht.

Die Sozialdemokraten wollen die Ausgaben für Krankenkassenprämien pro Versicherten auf 10 Prozent des verfügbaren Einkommens beschränken. Die Mitte-Partei CVP will einen Plafond für Gesundheitskosten einführen. Sie sollen nur noch im Umfang der Lohn- und gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zunehmen.

Beide Parteien sehen somit die Lösung der steigenden Kosten in staatlichen Regelungen. Zum einen sollen die kleinen Einkommen von den Krankenkassenprämien entlastet werden, was gemäss SP rund ­3,5 Milliarden Franken Mehrkosten verursacht. Die anderen wollen den Staat verpflichten, Leistungserbringer und Patienten in Schach zu halten. Wie konkret das in der Praxis umgesetzt werden könnte, bleibt jedoch schleierhaft.

Bruttoinlandprodukt (BIP) und Löhne wuchsen in der Vergangenheit schwächer als die Aufwendungen für Gesundheit. 2017 stiegen diese um 2,8 Prozent, während die Löhne lediglich um 0,4 Prozent und das BIP um 1,2 Prozent zunahmen. Das Wachstum der Gesundheitskosten müsste somit um mehr als die Hälfte gekürzt werden. Das hätte eine Reduktion von mehr als einer Milliarde Franken zur Folge.

Wie soll die Bremse konkret wirken? Was geschieht im Dezember, wenn die gesetzte Limite überschritten wird? Finden dann keine Hüft-, Knie-, Katarakt-, Meniskusoperationen usf. mehr statt? Gehen die Spezialärzte in die Ferien? Werden die Wunschoperationen auf das Folgejahr verschoben? Oder wird das Budget um diesen Wert gekürzt? Wer ist für die Triage der noch zu operierenden Patienten zuständig? Die Antwort ist schon heute vorauszusehen: die Politik, der Staat sollen es richten. Können sie es besser?

Welche Medizin hilft weiter?

Die Anamnese des Gesundheitsmarktes deutet auf ein krankes ­System hin. Ob die Diagnosen der Initianten das Übel kurieren, ist fraglich. Soll der Staat stets dafür sorgen, dass Angebot und Nachfrage sich innerhalb eines vorbestimmten Rahmens entwickeln? Oder soll die zunehmende Nachfrage einfach über Prämienverbilligungen gedeckt werden? Wäre ein Vorgehen, das direkt bei Angebot und Nachfrage einsetzt, nicht erfolgreicher?

Die Gesundheit ist doch ein ursprünglich und unmittelbar mit dem Individuum verbundenes Gut. Wer zu seiner Gesundheit Sorge trägt, der schützt sich selbst und verhindert damit Kosten. Die Massnahmen gegen das Coronavirus, Quarantäne und Selbstschutz sprechen eine klare Sprache. Demgegenüber führen die Initiativen lediglich zu einer Umverteilung der anfallenden Kosten auf der Angebots- und Nachfrageseite und verursachen hohe Verwaltungskosten.

Moralische Fehlanreize

Ursprünglich gingen die ehemaligen kantonalen Krankenkassen – ähnlich wie die kantonalen Gebäudeversicherungen – davon aus, dass alle dafür sorgen, dass jene, die von Krankheit betroffen sind, wieder Genesung finden. Das entspricht dem Solidaritätsprinzip. Primär wurden damals Hochrisiken, also Spitalbesuche, abgesichert. Die Eigenverantwortung stand über dem Grundsatz alle für einen.

Das ging mit dem Kranken­versicherungsgesetz (KVG) 1994 ­verloren. Heute bestimmen die Leistungserbringer, Ärzte, Spitäler, Reha-Kliniken, Spitex, Physiotherapeuten und weitere Anbieter, de facto Angebot und Nachfrage zugleich. Sie bieten den Patienten zu Besuchen auf. Der Patient ist ihnen quasi ausgeliefert.

Weil beide über die Krankenkassen finanziert werden, wird die Frage der Kosten der Behandlung nicht gestellt. Damit werden Unwohlsein, leichte Beschwerden wie auch echte Leiden zu einem jederzeit abrufbaren, kostengünstigen Konsumgut. «Ich habe schliesslich Prämien bezahlt und habe deshalb Anrecht auf Leistungen und die ­beste Heilung», argumentiert der Patient. Und der Leistungserbringer weiss, dass er in jedem Fall bezahlt wird. Somit sind beide glücklich. Reichen die Gelder nicht aus, oder bezahlt der Versicherte seine Prämien nicht, hilft sogar noch der Staat mit Prämienverbilligungen und Nachzahlungen. Wegen dieser ökonomischen Fehlanreize verhalten sich Individuen leichtsinnig, verantwortungslos und verstärken damit Risiken (moral hazard).

Mehr Staat oder mehr Eigen­verantwortung?

Welchen Weg soll nun nach diesem Befund die Politik einschlagen? Mehr Staat oder mehr Eigenverantwortung? Gute Beispiele für mehr Staatseinfluss liefern die gemäss den Statistiken zur Gesundheitspolitik «sozialistisch» geführten Kantone Waadt und Genf. 2018 wurden gesamtschweizerisch 4,7 Milliarden Franken an Prämienverbilligungen an 1,3 Millionen Haushalte geleistet. Etwas mehr als ein Drittel der Haushalte werden damit subventioniert. Im Kanton Waadt sind es 42 Prozent, im Kanton Genf ebenfalls.

Parallel dazu haben in der Waadt 29 000 und in Genf 47 422 Personen ihre Krankenkassenprämien nicht bezahlt, was den Kantonen 51 bzw. 69 Millionen Franken zusätzlich verursacht. Die beiden gehören denn auch zu den teuersten Gesundheitserbringern.

Ist dies eine Lösung für alle Kantone? Wer soll dann die zusätzlich anfallenden Kosten bezahlen? Sollen sie über Einkommenssteuern, Mehrwertsteuern, über höhere Prämien und höhere Prämienverbilligungen finanziert werden? Über Prämien nach Einkommen anstatt Kopfprämien? Oder über neue zu erschliessende Einnahmequellen?

Zaghafte Politik

Wo wären chirurgische Eingriffe erfolgreicher? Wohl eher beim Individuum, also über Eigenverantwortung, und bei den Leistungserbringern. Der Politik sind die Heilmethoden dazu seit Jahrzehnten bekannt. Die Abschaffung des Vertragszwanges – jede Krankenkasse muss heute jeden Arzt unbesehen akzeptieren und bezahlen – bringt Wettbewerb und eliminiert die schwarzen Schafe.

Leider getraut sich die Politik nicht, dieses heisse Eisen anzupacken. Vielleicht gelingt es dem Gesetzgeber endlich, ambulante und stationäre Therapien gleich zu behandeln. Eine parlamentarische Initiative, die vor elf Jahren eingereicht wurde, wird jedoch immer noch nicht umgesetzt. Die Entscheidung dazu ist noch nicht gefallen.

Ungewiss ist auch die Weiter­entwicklung von Tarmed. Ärzte und Krankenkassen können sich immer noch nicht über eine Vereinfachung der Tarifierung von Leistungen einigen. Dabei führte eine Einigung über allgemein verbindliche, einfache Stundensätze für Arztleistungen und eine separate Regelung der Ent­schädigungen für die eingesetzten Einrichtungen und Geräten zu transparenteren Abrechnungen.

Da die Kantone für die Gesundheit verantwortlich sind, gelingt es immer noch nicht, kantonsübergreifende Spitalregionen zu bilden, die zur Schliessung von überzähligen Spitälern führen würden, oder bestehende kleine Krankenhäuser in den Regionen zu überregionalen Rehakliniken oder Palliativzentren umzufunktionieren.

Fehlende Opferbereitschaft des Individuums

Auf der Nachfrageseite wirkt die Förderung der Eigenverantwortung beim Patienten nur über Prävention und über das Portemonnaie. Gesundheit kann nicht «gehamstert» werden. Der Patient muss wissen, was sein «Konsum» kostet. Die Leistungen müssen im Detail – d.h. in Franken und Rappen – ausgewiesen und vom Arzt noch vor der Behandlung offengelegt werden. Bei Wahloperationen wäre sogar eine Angabe der voraussichtlichen Eingriffs­kosten und das Aufzeigen von günstigeren alternativen Behandlungsvarianten zu fordern.

Eine hängige parlamentarische ­Initiative von Nationalrat Thomas Weibel (glp/ZH), die eine Gebühr beim Besuch von Notfallaufnahmen von 50 Franken erheben will, zielt in Richtung mehr Eigenverantwortung, wenn auch nur zaghaft.

Effizienter sind differenzierte Selbstbehalte, Hausarzt-, Versicherungsmodelle mit integrierten Versorgungsnetzen, Gebühren beim ­ersten Arztbesuch, zwingende oder kostenlose erste telefonische Beratungsdienste, einheitliche Krankenkassenprämien über alle Regionen. Erste Anlaufstelle muss vor dem Aufsuchen des Spezialisten immer zuerst der Hausarzt sein. Bagatellfälle gehören zuerst zum Apotheker.

Soll der «Konsum» von Gesundheit gebrochen werden, geht es nicht ohne Opfer der Versicherten. Massnahmen beim Patienten sind effizienter als staatliche Regelungen. Das zeigen auch die Bekämpfungsmassnahmen der Pandemie.Werner C. Hug

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