Publiziert am: 01.05.2020

Ein Automech mischt die Bildung auf

DIGITALE LEHRMITTEL – Noch vor der Corona-Krise untersuchte Charles Fürer, wie Verlage ihre Lernangebote zukunftsträchtig gestalten können. Seine Resultate erhalten durch die Pandemie noch mehr Gewicht. Die Umsetzung braucht aber noch Zeit.

Beim Lernen stellt sich nicht nur die Frage nach dem Was, sondern zunehmend auch nach dem Wie. Präsenzunterricht sowie Papier und Stift waren jahrzehntelang, oder eher jahrhundertelang, der einzige Weg. Heute gehören auch Computer zum Standardrepertoire eines jeden Lernenden. Sei es in der Schule, der beruflichen Grundbildung oder in der Weiterbildung. Aber die Digitalisierung kann mehr als Arbeiten schreiben in «Word».

Charles Fürer schrieb die beste Masterarbeit im Lehrgang Ausbildungsmanagement an der Zürcher Fachhochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Der gelernte Automechaniker untersuchte darin, wie die Verlage ihre Lernangebote fit für die Zukunft machen. Als Fürer damit begann, war die Corona-Krise noch weit weg. Doch genau jetzt könnten die Erkenntnisse enorm wertvoll sein, die Bildung in ein neues, digitales Zeitalter eintreten.

Eine Plattform für alle

Fürer schwebt ein ganzes digitalisiertes Ökosystem vor. «In Form ­einer Plattform haben die User ihren lebenslangen digitalen Lernbegleiter.» Genutzt werden könnte die Plattform basierend auf Lernabonnements. «Lernen mittels Ökosystem ermöglicht es dem User, individuelle Schritte zu machen, beispielsweise mit einem Lerncoach. Somit entsteht ein Marktplatz, welcher das Lernen mit Sinn und Motivation fördert.»

Künstliche Intelligenz hilft beim Finden von Angeboten, die zur Person passen. «Die ‹Verlage› werden in Zukunft Unternehmen, Schulen, Lehrpersonen, Selbstverlegende sowie ad hoc zusammengestellte Projektkreise sein», erklärt Fürer. Methodische Grundkonzepte und Qualitätskontrollen sorgen dafür, dass nur qualitativ hochwertige Inhalte freigegeben werden. Man kann sich dies wie bei den App Stores vorstellen, wo die Apps ebenfalls zuerst überprüft werden, bevor sie öffentlich zum Download freigegeben werden. Weiter würden diverse Services angeboten. «Das können Dienstleistungen von Lerncoaches, Dozenten oder Fachspezialisten sein, welche digital gebucht werden.» Sehr wichtig ist Fürer dabei auch der physische Aspekt. Lerncoaches könnte man in Echtzeit im digitalen Lern-Café treffen, aber auch bei sich zu Hause. Je nach Wunsch und Verfügbarkeit. Das Stichwort lautet hier «Blended Learning», also die Kombination von ­E-Learning mit Präsenzunterricht. Anschliessend bewerten die User die erhaltenen Leistungen, den Kurs, den Dozenten oder auch den eigenen Lerncoach. «So reguliert sich der Servicemarkt automatisch.»

Individueller lernen

Von heute auf morgen lässt sich ein derart komplettes Ökosystem natürlich nicht aufbauen. In der Gewerbezeitung vom 3. April monierte Ernst Meier, Rektor des Bildungszentrums Interlaken, dass sehr viele Lehrmittel noch gar nicht digital erhältlich seien. «Dem stimme ich zu», sagt Fürer. «Viele an der Bildung beteiligte Personen schauen der Geschäftsentwicklung in die digitale Welt konservativ entgegen.» Die Schuld einem einzigen Bereich der Bildungswertschöpfungskette in die Schuhe zu schieben, findet Fürer dagegen falsch. Für die Zukunft gelte es daher Partnerschaften anzustreben. «Dem Gärtchen-Denken würde mit einem ganzen Ökosystem ein Ende bereitet.»

Benachteiligt sind derzeit im digitalen Unterricht besonders die lernschwachen Schüler. Für sie ist eine persönliche Begleitung besonders wichtig. Was aktuell in der Schule nicht oder nur erschwert möglich ist, liesse sich mit einem Ökosystem besser umsetzen, ist sich Fürer sicher. «Denn dieses ermöglicht genau selbstgesteuertes, ortsunabhängiges Lernen. Dies führt dazu, dass ein Lerncoach mehr Zeit für die gezielte Unterstützung von Lernenden hat und so besser auf einzelne Personen eingehen kann.»

Zudem soll der digitale Unterricht den Präsenzunterricht nicht komplett ersetzen, wie Fürer erneut betont. «Er soll den Präsenzunterricht unterstützen.» Im physischen Aufeinandertreffen könne nach wie vor detaillierter auf die Lernenden eingegangen werden.

Nachhaltige und digitale Lernwelt

Vom Automechaniker zum Ausbildungsmanagement. Der 32-jährige Fürer ist sich bewusst, dass er einen speziellen Weg gewählt hat. Umso mehr sind ihm Durchlässigkeit und Offenheit in der Bildungslandschaft Schweiz ein Anliegen. «Auch Personen mit einem Werdegang wie ich sollen eine Chance erhalten, an einer Fachhochschule eine Anstellung als Dozent zu erhalten.»

Was für eine Lernwelt erhofft sich Fürer denn für seinen einjährigen Sohn? «Eine zukunftorientierte und nachhaltige. Eine, die Chancen der Zukunft in Möglichkeiten umwandelt und umsetzt – ob digital oder analog.» Noch mehr würde es ihn freuen, «wenn mein Sohn in meiner persönlichen Vision von Bildung, dem ‹Haus des erlebenden Lernens› mitwirken oder lernen darf». Dieses würde den Freitag als Family Learning Day vorsehen. «Am Nachmittag wird in der Familie gelernt», sagt Fürer. Man spürt: Die Ideen gehen ihm noch lange nicht aus.

Adrian Uhlmann

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