Publiziert am: 05.11.2021

Ein Virus – und die Welt steht kopf

WELTHANDEL – Spätestens seit der Frachter «Ever Given» im vergangenen März den Suezkanal blockiert hat, sind die weltweiten Warenströme aus dem Takt. Betroffen sind weltweit agierende Firmen wie Kühne + Nagel oder Ikea ebenso wie viele Schweizer KMU – eine baldige Besserung ist nicht in Sicht.

Gut 20 Monate plagt sich die Welt nun schon mit den Folgen der Corona-Pandemie herum. In diesen gut anderthalb Jahren ist, im Privaten wie auch global, kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Unsere aller Anpassungsfähigkeit wurde und wird noch immer tagtäglich geprüft. Dies gilt insbesondere auch für Firmen – vom Grosskonzern bis hin zum Einmannbetrieb.

Die «Pulsader» war blockiert

Unvergessen die Bilder vom März 2021: Der Megafrachter «Ever Given» war im Suezkanal auf Grund gelaufen. Sechs lange Tage blockierte der mit mehr als 18 000 Containern beladene, 400 Meter lange und 59 Meter breite Frachter die wichtige Wasserstrasse zwischen Asien und Europa. Hunderte Schiffe konnten nicht passieren, der weltweite Handel geriet gründlich aus dem Takt. Nach ihrer «Befreiung» lag die «Ever Given» aufgrund eines ägyptischen Gerichtsurteils auf einem See zwischen zwei Kanalabschnitten vor Anker fest. Erst nach einer Zwangspause von 100 Tagen fuhr der Frachter weiter nach Rotterdam – dem ursprünglichen Ziel, wo in der Folge zahlreiche weitere Probleme mit anderen Frachtschiffen den Welthandel zusätzlich erschwert haben.

Die Blockierung der Pulsader des Welthandels – der Suezkanal ist Teil einer der wichtigsten Seehandelsrouten der Welt – hat bereits bestehende, von diversen Lockdowns ausgelöste Probleme der weltweiten Lieferketten noch zusätzlich verschärft. Und diese sind bis heute nachhaltig gestört. So erreichen uns derzeit fast täglich neue Meldungen über Engpässe bei Rohstoffen, dadurch steigende Produktionskosten oder gar einen Stillstand der Produktion.

Ganz Grosse ebenso betroffen …

Und das trifft auch die ganz Grossen: Der US-Konzern Apple muss wegen des weltweiten Chipmangels sein Produktionsziel für das neue iPhone 13 senken. Apple wollte bis Ende Jahr 90 Millionen Geräte herstellen und nennt nun 80 Millionen als neues Ziel, wie die Finanznachrichtenagentur Bloomberg berichtete. Grund: Die Zulieferer Broadcom und Texas Instruments könnten nicht genügend Halbleiter liefern.

Der schwedische Möbelbauer Ikea ist ebenfalls betroffen und nimmt aufgrund fehlender Transportkapazitäten einzelne Produkte gleich ganz aus dem Sortiment. «Die globalen Lieferketten stehen unter enormem Druck», sagte Peter Langskov, Logistikchef für Ikea Dänemark, gegenüber dem Newskanal Euronews. Offenbar sucht der Konzern bereits nach Alternativen zum stockenden Containerschiffverkehr. «Wir haben versucht, eine Eisenbahnverbindung von Asien nach Europa zu errichten, sodass wir Züge zum Transport nutzen können. Ausserdem haben wir versucht, Con-tainerschiffe zu leasen und leere Schiffe gekauft. Aber die müssen auch wieder zurückgebracht werden, und das ist ein Problem.»

…  wie viele Schweizer KMU

Unter Problemen leiden auch Schweizer KMU. So sagt der Unternehmer, Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbands sgv, Fabio Regazzi, dessen Tessiner Firmengruppe unter anderem Rollladensysteme produziert, über seinen wichtigsten Rohstoff: «Der Preis für Aluminium hat sich innert eines Jahres praktisch verdoppelt – ein nie gesehener Preisanstieg, der uns vor ernsthafte Herausforderungen stellt.» Kunden seien oft nicht bereit, die entsprechenden Zuschläge zu bezahlen, «ausser es ist in Offerten und Verträgen so vorgesehen». Am schlimmsten – und gegenüber der Kundschaft am schwierigsten zu begründen – seien aber die verlängerten Lieferfristen.

Der Thurgauer Ständerat Jakob Stark, seit Mai Präsident von Lignum, der Dachorganisation der Schweizer Holzwirtschaft, beobachtet Ähnliches. «Holz ist sehr gefragt, nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa und besonders in den USA», sagte Stark im Juli gegenüber der Gewerbezeitung. «Zusammen mit China kaufen die USA derzeit den Weltmarkt leer.» Dies habe zu Engpässen geführt: «Holz und viele andere Materialien wie Stahl oder Aluminium, Kunststoffe – in Form von Rohren, Folien oder Dämmungen – oder auch Glas sind seit dem ersten Quartal 2021 zum Teil rar auf Schweizer Baustellen.» Auch dies eine Folge der Lücken, welche durch das Stop-and-go in den Pandemiejahren 2020 und 2021 verursacht worden sind. «Im Moment gilt es, das Bauen gut zu planen. Die Schweizer Werke laufen auf Volllast, aber ohne Importe – rund 70 Prozent der im Bauwesen eingesetzten Produkte werden importiert – so geht es im Holzbau einfach nicht.»

«Angespannt wie selten zuvor»

Betroffen ist auch der Fachhandel. So weist etwa das Familienunternehmen Tomwood AG, das im oberaargauischen Wiedlisbach beheimatet ist und unter anderem Gartenhäuser und Pavillons, Carports oder Kinderspielgeräte verkauft, seine Kunden auf der Website Ende September auf die Teuerung und die schwierige Versorgungslage bei Holz- und Bauwerkstoffen hin. Die Marktsituation sei «bei allen Herstellern aktuell schwierig», die Rahmenbedingungen «angespannt wie selten zuvor». Einige Waren könnten über eine kürzere oder längere Zeitspanne nicht verfügbar sein. «Die Realisierung von Bauvorhaben und Bauprojekten kann sich dadurch verzögern.»

Als Gründe für die Teuerung – gerechnet wird mit Zuschlägen zwischen 5 und 45 Prozent – nennt Tomwood unter anderem, «dass viele Grossunternehmen aus Sorge vor einem Umsatzeinbruch wegen des Lockdowns die Produktionen deutlich gedrosselt haben. Tatsächlich aber stieg die komplette Nachfrage im Bau- und Renovierungs-sektor – dies bedeutet im Klartext: Angebot und Nachfrage klafften schnell auseinander. Noch heute wirkt das nach, denn die Industrie hat die Lagerkapazitäten nicht aufbauen können».

Die Firma empfiehlt deshalb, Bestellungen möglichst frühzeitig zu platzieren. Sie verspricht, für Waren, die nicht verfügbar sind, nach alternativen Produkten zu suchen. Und sie weist darauf hin, dass wegen der angespannten Versorgungssituation mit einer längeren Planungszeit gerechnet werden müsse.

Mehr Kulanz bei Beschaffungen

Auch Maler und Gipser leiden unter coronabedingten Lieferengpässen und der Teuerung – und setzen nun auf die Karte Politik. Nationalrätin Sandra Sollberger, Malermeisterin und Mitglied im Zentralvorstand des Schweizerischen Maler- und Gip-serunternehmer-Verbands SMGV, hat Ratskolleginnen und -kollegen im September an einem Parlamentariertreffen für die «Materialknappheit auf Kosten der KMU» hingewiesen – und in der Herbstsession einen entsprechenden Vorstoss lanciert. In ihrer Interpellation fordert Sollberger den Bundesrat auf, «mehr Kulanz und Entgegenkommen» im Bereich öffentliche Beschaffungen zu gewährleisten und «auf allen Ebenen – Bund, Kantone und Gemeinden – die Beschaffungsstellen auf die Folgen der coronabedingten Herausforderungen zu sensibilisieren, «damit das Gewerbe nicht im Regen stehen gelassen wird». Gerade bei öffentlichen Bauten sollten die Maler- und Gipserunternehmer die Materialpreiserhöhungen nicht alleine tragen müssen, fordert der SMGV.

Verlässliche Planung erschwert

Nicht nur der Bau, sondern auch der Handel mit und die Produktion von Lebensmitteln ist von der Pandemie betroffen. So fordert etwa der Verband Schweizer Pilzproduzenten VSP, die Produzentenpreise müssten angehoben werden. «Nach einem sehr guten Absatz im ersten Halbjahr 2021 stehen die Produzenten durch die stark gestiegenen Kosten vor grossen Herausforderungen», teilte der Verband im September mit. Neben steigenden Personal- und Lohnkosten, einer erschwerten Rekrutierung von Fachkräften – «eine Entwicklung, die sich durch die Corona-Pandemie nun noch verschärft hat» –, seien die steigenden Rohstoffpreise, eine wetterbedingte Verknappung des Substratausgangsmaterials Stroh, die zunehmenden Energiekosten und der Mangel an diversen Baustoffen Probleme, die «eine verlässliche Investitionskostenplanung aktuell fast verunmöglichen».

Mehr Fracht, weniger Container

Ein grösseres Problem, das sich nicht allzu rasch wird lösen lassen: Kühne +Nagel, der international tätige Logistikkonzern mit Sitz in der Schweiz, rechnet mit einer anhaltenden Knappheit an Fracht-containern. Nachdem die Umsätze und auch der Welthandel wegen der Lockdowns drastisch zurückgegangen seien, sei das weltweite Frachtaufkommen im Juni 2020 sprunghaft angestiegen. Zuerst zwischen Asien und USA, gefolgt von Asien–Südamerika und Asien–Ozeanien. Um der stark gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden, hätten Spediteure in einigen Fahrtgebieten schnell wieder Kapazitäten zur Verfügung gestellt. «Als sich jedoch schnell immer mehr Fahrtgebiete erholten, spitzte sich die Situation zu.»

Als Ursachen für die Containerknappheit nennt Kühne+Nagel eine reduzierte Anzahl an verfügbaren Containern, überfüllte Häfen – vor Los Angeles etwa musste ein Frachtschiff im Oktober bis zu zwölf Tage warten –, eine geringere Anzahl einsatzfähiger Schiffe sowie veränderte Warenströme.

Ins gleiche Horn stösst Marc Käppeli, Geschäftsführer – in vierter Generation – des seit 1922 erfolgreichen Berner Familienunternehmens Blasercafé. Auch beim Kaffee machen sich Lieferengpässe und Preissteigerungen bemerkbar. «Zu Beginn waren es die Häfen, die aufgrund von Covid-19 ihre Kapazitäten reduziert hatten, was zu Verzögerungen führte. Jetzt befinden wir uns in einem Engpass (Überlastung) mit sehr geringer Verfügbarkeit von Containern und explodierenden Transportpreisen.» Schifffahrtsunternehmen hielten ihre Verträge nicht mehr ein und stellten die Container nur unter der Bedingung zur Verfügung, dass Kunden das Fünf- bis Zehnfache dessen zahlten, was sie zu Beginn des Jahres gezahlt hätten. «Immer mehr Schiffe warten auf die Einfahrt in die grossen Häfen, die Hafeninfrastruktur ist nicht auf der Höhe der Zeit – insbesondere in den USA –, und die Container können nicht rechtzeitig entladen, transportiert und geleert werden. In einigen Fällen kommt es zu Lieferverzögerungen von bis zu fünf Monaten.»

Die Gewässer bleiben rau

Und schliesslich treibt die Pandemie auch ganz besondere Blüten. So hat die «SonntagsZeitung» berichtet, dass aufgrund des Mangels an Ersatzteilen vermehrt Einzelteile von Velos geklaut würden – und zwar jene Teile, die aufgrund der Lieferverzögerungen anders kaum zu beschaffen seien …

Sicher ist derzeit einzig, dass der Welthandel nicht so rasch wieder in ruhigere Gewässer steuern wird, wie sich das viele heute wünschen. Und dass die Frage, ob ein bestimmtes Produkt im Dezember unter dem Weihnachtsbaum liegen wird oder nicht, noch zu den einfacheren Problemen zählt – zumindest aus Sicht mancher Schweizer KMU.

Gerhard Enggist

DAS KÖNNEN KMU TUN

Tipps fĂĽr Umgangmit Preisanstiegen

Der Gebäudetechnikverband suissetec hat Mitte September vor dem Hintergrund steigender Rohstoffpreise und deren Einfluss auf die Materialpreise Tipps für den Umgang mit Preisanstiegen veröffentlicht – mit dem Ziel, dass Firmen damit besser umgehen können. So raten die Experten unter anderem:

• Offerieren Sie Arbeit und Material separat.

• Halten Sie die Verbindlichkeit Ihrer Offerten kurz, zumindest was das Material betrifft.

• Behalten Sie sich Materialpreisanpassungen vor (gegebenenfalls können Sie sich auf einen Materialpreisindex beziehen).

• Achtung bei Pauschalpreis-Verträgen: Sie erlauben grundsätzlich keine Teuerungsanpassung.

• Bleiben Sie in engem Kontakt mit Ihrem Hersteller-Lieferanten.

• Reservieren Sie bei Auftragserhalt das Material zeitnah.

• Rückvergütungen auf dem Einkauf verbessern Ihre Marge – nutzen Sie dafür bestehende Angebote und Strukturen.

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