Publiziert am: 05.02.2021

«Ein wichtiger Meilenstein»

CHRISTINE DAVATZ – Die sgv-Bildungsfachfrau setzt sich mit Nachdruck dafür ein, dass praktische Lehrabschlussprüfungen und auch überbetriebliche Kurse durchgeführt werden. Nur so könne jungen Berufsleuten ihre Arbeitsmarktfähigkeit attestiert werden.

Schweizerische Gewerbezeitung: Seit bald 35 Jahren sind Sie die Bildungsexpertin im Schweizerischen Gewerbeverband sgv. Inwiefern war das vergangene «Corona-Jahr» anders als alle bisherigen?

Christine Davatz: Das letzte Jahr hat mir gezeigt, wie fragil und sensibel die Verbundpartnerschaft in der Berufsbildung ist. Die Zusammenarbeit zwischen Bund, 26 Kantonen und 250 Berufsverbänden ist schon bei schönem Wetter anspruchsvoll, in Krisenzeiten kommen die Stärken – nach dem ersten Sturm rauft man sich zusammen und sucht Lösungen –, aber auch die Schwächen – sind wir tatsächlich gleichberechtigte Verbundpartner? – erst richtig zum Ausdruck.

Aktuell bereiten Ihnen unter anderem die Berufsfachschulen Sorgen. Diese müssten auch im Fall einer Schulschliessung ab Sekundarstufe II geöffnet bleiben. Weshalb ist Ihnen dies so wichtig?

Eigentlich sind es nicht die Schulen, die uns Sorgen machen; es ist vielmehr die Gesundheitspolitik der einzelnen Kantone oder jene Medien, die ständig nach Schulschliessungen rufen. Bereits letzten Herbst waren wir uns in der «Taskforce Perspektive Berufslehre» einig, dass 2021 wenn immer möglich die beruflichen Grundbildungen sowohl in den Betrieben als auch in den Schulen regulär laufen sollen.

Was hätte eine Schliessung der Berufsfachschulen kurz- und längerfristig konkret zur Folge?

Aus dem letzten Jahr wissen wir, dass ausgefallene Schulstunden nur mit viel Aufwand nachgeholt werden können. Und auch der Fernunterricht war für viele Berufslernende nicht ideal, auch wenn z.T. Unterstützung angeboten wurde. Die Folgen sind klar: Die berufliche Grundbildung leidet; das ebenso notwendige theoretische Fachwissen und der allgemeinbildende Unterricht, der in den Berufsfachschulen vermittelt wird, fehlt. Der Stoff könnte allenfalls nicht geprüft werden, und die nötige Basis für eine Weiterbildung ist dünn.

Sie drängen auch darauf, dass Zentren für die überbetrieblichen Kurse (üK) geöffnet bleiben müssen. Warum können die Lernenden nicht auf die üK verzichten?

In den überbetrieblichen Kursen werden die notwendigen betriebsübergreifenden Grundfertigkeiten und Tätigkeiten eines Berufs vermittelt und eingeübt. Es wird also mehrheitlich praktisch gearbeitet und trainiert. Fällt dies weg, fehlt den jungen Berufsleuten wiederum ein Teil der notwendigen Berufspraxis.

Mit Nachdruck fordern Sie zudem, dass Lehrabschlussprüfungen tatsächlich durchgeführt werden. Was bedeutet es für junge Berufsleute, wenn sie ihre Ausbildung ohne Qualifikationsverfahren abschliessen müssten?

Die grosse Mehrheit der Lernenden möchte am Schluss der Ausbildung zeigen, dass sie nun Profis sind in ihrem Beruf. Denken Sie nur an die Lehrabschlussfeiern: Mit wie viel Stolz die jungen Leute ihren eidgenössischen Fähigkeitsausweis (EFZ) abholen! Es ist ein wichtiger Meilenstein im Leben, zentral für den Einstieg in die Arbeitswelt. Das eidgenössische Fähigkeitszeugnis ist auch Beleg für die Arbeitsmarktfähigkeit und ein Anstellungskriterium.

Vermehrt wird gefordert, dass Betriebe ihre Lernenden aufgrund von Erfahrungsnoten beurteilen sollten. Weshalb lehnen Sie diese Form der Qualifikationsbeurteilung ab?

In der Berufsbildung gilt der Grundsatz: Wer lehrt, prüft nicht. Der Abschluss einer beruflichen Grundbildung führt nicht nur zu einem Arbeitszeugnis oder Schulzeugnis. Mit dem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis oder eidgenössischen Berufsattest wird nichts weniger als die Arbeitsmarktfähigkeit in einem Beruf attestiert. Die Berufsbildung ist national geregelt, und ein Fähigkeitszeugnis (EFZ) oder Berufsattest (EBA) belegt die Ausbildung eines Berufs, der in der ganzen Schweiz die gleichen Kompetenzen verlangt. Deshalb ist die Beurteilung durch externe Experten zentral. Dies ist anders in den allgemeinbildenden Schulen, wo die Lehrpersonen ausbilden und auch prüfen. Mit diesem Abschluss geht man dann in der Regel an eine weiterführende Schule und nicht auf den Arbeitsmarkt.

In der höheren Berufsbildung gilt das System der Subjektfinanzierung; Teilnehmende müssen also eine Vorfinanzierung ihrer Ausbildung leisten. In der Krise kann das zu Problemen führen. Welche anderen Lösungen sind hier denkbar?

Der sgv hat die Subjektfinanzierung seit jeher kritisiert, weil sie diejenigen, die sich auf eine Berufs- oder höhere Fachprüfung vorbereiten wollen, doppelt benachteiligt: einerseits müssen sie die Vorbereitungskurse vorfinanzieren, und anderseits müssen sie die Prüfung absolvieren, bevor sie die Hälfte der Kursgebühren zurück verlangen können. Sowohl bei den höheren Fachschulen und erst recht bei den Hochschulen ist das anders, dort werden die Bildungsanbieter, also die Schulen, subventioniert.

Bei den Vorbereitungskursen wieder auf dieses System zurückzukommen, wird wohl kaum möglich sein, wäre aber sicher die fairste Lösung. Erfreulicherweise zeigen die neusten Zahlen, dass auch bei der Subjektfinanzierung die Arbeitgeber immer noch rund 30 Prozent mitfinanzieren. Wir verlangen aber seit Beginn, dass genau und transparent evaluiert wird, wie sich die Berufs- und höheren Fachprüfungen entwickeln. Durch die Subjektfinanzierung befürchten wir einen Rückgang der Teilnehmerzahl. Und nicht zuletzt muss die gesamte höhere Berufsbildung noch mehr gestärkt und endlich als gleichwertig zum akademischen Weg behandelt werden.

Zurück zum Beginn der beruflichen Ausbildung: Gibt es tatsächlich, wie in verschiedenen Medien behauptet, wegen «Corona» weniger Lehrstellen?

Im letzten Jahr gab es keinen Rückgang der Lehrstellen, obwohl die entsprechenden Befürchtungen gross waren. Wie es 2021 aussieht, wissen wir noch nicht; wir hoffen aber, dass in allen Branchen die Betriebe weiterhin bereit sind, Lehrstellen zur Verfügung zu stellen. Schliesslich geht es um die Sicherstellung ihres qualifizierten Berufsnachwuchses. Bei besonders betroffenen Branchen, wie die Gastro-, Event- oder Fitnessbranche, müssen wir aber helfen.

Machen wir noch einen Schritt zurück. Schnupperlehren sind ein wichtiges Instrument im Berufswahlprozess. Was würde es für Schülerinnen und Schüler bedeuten, wenn sie keine Schnupperlehre machen könnten?

Schnupperlehren haben verschiedene Funktionen. Eine erste ist sicher das Kennenlernen eines Berufs; aber dann ist es vor allem das Kennenlernen des Betriebs, in dem man sich in zwei, drei oder vier Jahren zum Berufsmann oder zur Berufsfrau ausbilden will. Deshalb ist es sehr wichtig, verschiedene Schnupperlehren zu absolvieren und dann genau zu prüfen, wo es am besten passt. Die Chemie zwischen Ausbildner und Jugendlichem muss einfach stimmen.

Interview:

Gerhard Enggist

www.sgv-usam.ch

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