Publiziert am: 04.09.2015

Eine Diskussion zur falschen Zeit

MOBILITY PRICING – Ob auf der Strasse oder auf der Schiene: Der Bericht des Bundesrats steht im Widerspruch zu den Realitäten des Arbeitsmarkts. Und Pendler würden bestraft – schliesslich verlangt man von ihnen Flexibilität.

Mit «benützungsbezogenen Abgaben für Infrastrukturnutzung und Dienstleistungen im Individualverkehr und im öffentlichen Verkehr» will der Bundesrat die Mobilitätsnachfrage beeinflussen. Er hat einen entsprechenden Konzeptbericht in die Vernehmlassung geschickt. «Mobility pricing» soll Verkehrsspitzen brechen und eine gleichmässigere Auslastung der Verkehrsinfrastrukturen erreichen.

2014 wurden auf dem Nationalstras­sennetz über 20 000 Staustunden gezählt. Die dadurch entstandenen volkswirtschaftlichen Mehrkosten werden auf circa eine Milliarde pro Jahr geschätzt. Für die Zukunft ist mit einer weiteren Zunahme der Mobilität sowohl auf der Schiene als auch auf der Strasse zu rechnen. Bevölkerung und Wirtschaft sind jederzeit auf eine funktionierende Strassenverkehrsinfrastruktur angewiesen.

Kein Zwangssystem

Der Schweizerische Gewerbeverband sgv spricht sich grundsätzlich gegen ein Zwangsinterventionssystem in der Verkehrslenkung aus. «Mit Blick auf die Erfahrungen im Ausland ist es fraglich, ob mit einem solchen System langfristig wirklich die angestrebte Entlastung erzielt werden kann», sagt sgv-Direktor Hans-Ulrich Bigler. Der Einbezug von Nationalstrassen, Kantonsstras­sen und Strassen in der Agglomeration deutet auf eine administrativ aufwendige und umfassende Verkehrslenkung hin.

Drohende Zusatzbelastungen

85 Prozent der Güterverteilung finden auf der Strasse statt. Daran wird sich auch künftig nichts ändern. Zum einen soll die verkehrslenkende Massnahme gemäss Konzeptbericht vor allem in den Städten und Agglomerationen erfolgen, wo das Gewerbe besonders gefordert ist. Zum anderen können die Gewerbetreibenden in der Erfüllung der Kundenwünsche in der Regel weder Zeit noch Ort der Fahrten selbst wählen. Es liegt in Natur der Sache, dass beispielsweise Frischwaren frühmorgens verteilt werden müssen. Der Bundesrat verspricht zwar, keine zusätzlichen Abgaben erheben zu wollen. Für das Gewerbe drohen sehr wohl höhere Kosten.

Falsches Signal

Mobility Pricing bestraft Pendlerinnen und Pendler, ob auf der Strasse oder auf der Schiene. Die Forderung, dass Arbeitnehmende dort arbeiten sollen, wo sie wohnen, tönt zwar gut, ist aber realitätsfremd. Die Mehrheit der Arbeitspendlerinnen und Arbeits­pendler kann die Arbeitszeit nicht frei wählen. Zudem widerspricht der Ansatz der von Bund und Kantonen in volkswirtschaftlicher Hinsicht immer wieder geforderten Flexibilität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Er steht auch im Widerspruch der Pflicht einer arbeitsuchenden Person, eine Arbeitsstelle antreten zu müssen, die pro Weg zwei Stunden oder bis zu 100 Kilometer vom Wohnort entfernt ist. Solche Wege werden heute als zumutbar beurteilt.

Da der Konzeptbericht Mobilität auch eine stärkere Bepreisung des öffentlichen Verkehrsmittels in Spitzenzeiten anstrebt, ist ein Umsteigen auf den öffentlichen Verkehr keine Option. Die Kapazitäten wären auch gar nicht vorhanden. In jedem Fall soll die Mobilität verteuert werden. Damit entfaltet Mobility Pricing auch eine Wirkung auf die Arbeitsmarktpolitik in der Schweiz, was der Bundesrat im Bericht gänzlich ausblendet. Zu Stosszeiten sind viele Arbeits­pendlerinnen und Arbeitspendler auf verlässliche Verbindungen mit dem Auto oder dem öffentlichen Verkehr angewiesen. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern.

Der sgv lehnt den Konzeptbericht Mobility Pricing und die darin an­gedachten Verkehrslenkungsmassnahmen ab. Für den sgv stehen die langfristig gesicherte Strassenfinanzierung und der Ausbau der ­Strassenverkehrsinfrastruktur im Vordergrund, weshalb er in Analogie der FABI-Vorlage (Finanzierung Ausbau Bahninfrastruktur) den Nationalstras­sen- und Agglomerationsverkehrsfonds NAF mit einem strategischen Entwicklungsprogramm Nationalstrasse befürwortet, der für die Zukunft eine gesicherte Strassenfinanzierung anstrebt.

2016 wird ein Schlüsseljahr für die Verkehrsinfrastrukturen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Projekte (Sanierungstunnel am Gotthard) und der Zukunft der Strassenfinanzierung (NAF, Milchkuh-Initiative) ist auch der Zeitpunkt für eine Vernehmlassung über Mobility Pricing denkbar schlecht gewählt bzw. könnte als falsches Signal verstanden werden.

Dieter Kläy, Ressortleiter sgv

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