Publiziert am: 16.09.2022

«Es fehlte jegliche Legitimation»

COVID-19 – Das nationale Forschungs­programm «Covid-19» (NFP 78) hat gemeinsam mit dem sgv eine Dia­log­veranstaltung durchgeführt. «Die wirtschaftlichen Auswirkungen der verhängten Massnahmen wurden nicht berücksichtigt», monierte sgv-Direktor Hans-Ulrich Bigler in seiner Eröff­nungsrede, die hier zu lesen ist. Kritik äusserte er auch an der Rolle der Task Force.

Der Schweizerische Gewerbeverband sgv begrüsst die Dialog-Veranstaltung ausdrücklich. Als grösster Dachverband der Wirtschaft haben wir uns während der Pandemie in den letzten zwei Jahren intensiv für Massnahmen mit Augenmass eingesetzt. Insbesondere war es der sgv, der die «Logik des gezielten Schutzes» (testen, impfen, contact tracing, Schutzkonzepte) entwickelt hat. Dieses Konzept war die Grundlage für die Wiederöffnung der Wirtschaft (smart restart) nach dem ersten Lockdown und fand dementsprechend Eingang in Artikel 1 des Covid-Gesetzes. Es war auch der sgv, der immer wieder auf den Zielkonflikt zwischen Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft hingewiesen und einen gesamtheitlichen Dialog gefordert hat.

Gerade in einer Krisensituation, aber auch im Allgemeinen sind die Erkenntnisse der Wissenschaft für den politischen Prozess unentbehrlich, sie sind notwendig und hilfreich. Wie aber das Zusammenspiel zwischen Wissenschaft, Politik und Stakeholdern funktionieren muss, ist Gegenstand meiner nachfolgenden Ausführungen.

Ohne angemessene Evidenz

Der sgv stellte schon während der Pandemie fest, dass die Krisen-Führungsprozesse voller Friktionen und Widersprüche waren. So war es insbesondere unklar, auf welcher Grundlage Entscheide getroffen wurden – Evidenz, Szenarien, Befürchtungen, Absprachen mit anderen Ländern? – und wie die verschiedenen Gesichtspunkte bei der Entscheidfindung gewichtet wurden. Aufgrund der Ergebnisse dieser Entscheide und der Art, wie sie sich auf die Wirtschaft und auf den sozialen Zusammenhalt der Schweiz auswirkten, konnte man nur davon ausgehen, dass sie einseitig und ohne angemessene Evidenz getroffen wurden.

Eine zentrale Lehre aus dem Umgang mit der Pandemie ist: Die wirtschaftlichen Auswirkungen der verhängten Massnahmen wurden nicht berücksichtigt. Je länger ein Lockdown dauert, desto überproportional wächst der dadurch verursachte volkswirtschaftliche Schaden. Diese aus den Daten des Internationalen Währungsfonds abgeleitete Erkenntnis wurde durch eine andere verstärkt: Massnahmen wie Lockdown und Homeoffice-Pflicht wirken sich gerade auf wirtschaftlich und sozial Schwächere vergleichsweise stärker aus.

Viele dieser einseitigen Massnahmen wurden zudem auf der Basis der Empfehlungen der «Swiss National COVID-19 Science Task Force» ergriffen. Und damit sind wir beim heutigen Thema angelangt. Die politische und gesetzliche Ausgangslage ist eine klare. Der Bundesrat hat seit Jahren schon eine Eidgenössische Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) mit gewählten Mitgliedern eingesetzt.

Wie auf der Internetseite des Bundesamts (BAG) für Gesundheit steht, ist die EKP eine unabhängige ausserparlamentarische Expertenkommission. Sie berät die Bundesverwaltung in der Vorbereitung auf Pandemien, die durch Influenza- oder andere respiratorische Virentypen verursacht sind. Ausserdem übernimmt sie im Ereignisfall eine beratende Funktion in Fragen der Lage- und Risikobeurteilung sowie in der Wahl der Strategien und Massnahmen zur Bewältigung einer Pandemie.

Die gesetzliche Grundlage ergibt sich aus dem Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz. Die dazugehörige Verordnung besagt, dass Mitglieder nicht öffentlich bekannte Informationen, die sie im Rahmen ihrer Kommissionstätigkeit erlangen, nur für ihre Kommissionstätigkeit verwenden. Und dass Kommissionen, die gemäss ihrer Einsetzungsverfügung ohne Rücksprache mit der zuständigen Behörde kommunizieren, bei der Information der Öffentlichkeit zu politischen Fragen auf die gebotene Zurückhaltung achten.

Daraus folgt die Problembeschreibung: Das BAG verzichtete darauf die EKP einzusetzen. Mister Corona, Daniel Koch, hielt dazu an der Gewerblichen Winterkonferenz des sgv vom Januar 2022 unmissverständlich fest: «Das war ein klarer Fehler.» Anstatt sich auf eine klare Gesetzesgrundlage zu stellen, setzte das EDI bzw. dessen Generalsekretariat die erwähnte «Task Force» (TF) auf Mandatsebene ein.

Für die Wahl der TF-Mitglieder war in der Folge der TF-Präsident selbst zuständig. Damit fehlte jegliche demokratische Legitimation und in der Öffentlichkeit bestanden erhebliche und vor allem auch berechtigte Zweifel, ob hier auch kritische Stimmen zum Zuge kamen und der notwendigen Ausgewogenheit Rechnung getragen wurde. Jedenfalls wurden diese Stimmen in der Öffentlichkeit nicht oder kaum gehört. Ebenso wenig war eine politische Kontrolle durch das Eidgenössische Parlament möglich, was in der Folge zu entsprechend heftigen Angriffen auf die TF durch die Politik führte. Zu Recht reklamierte das Parlament als gewählte Behörde und legislative Gewalt ihre Kompetenz.

Ebenso wenig wurden die Bestimmungen zur Kommunikation eingehalten. War es Zufall, dass Vertreter der TF überspitzt gesagt jeweils einen Tag vor den Bundesratssitzungen den Weltuntergang an die Wand malten und auf Modelle verwiesen, die sich im Nachhinein als falsch erwiesen und sich der Bundesrat damit unter politischen Zugzwang gesetzt sah?

Als Fazit ist festzustellen, dass der fehlende Dialog zumindest zu unausgewogenen, einseitig auf die Gesundheitspolitik ausgerichteten Entscheiden und Massnahmen führte. Namentlich fehlte eine ausgewogene Balance zwischen den Ansprüchen von Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft.

Anforderungen an einen Dialog

Die Wissenschaft muss und soll in den politischen Entscheidfindungsprozess einbezogen werden. Die zu diskutierende Frage lautet, wie sie sich einbringen kann und soll. Zu Recht hält der «Bericht zur Auswertung des Krisenmanagements der Bundesverwaltung in der Covid-19 Pandemie» fest, dass die Frage, wer die strategische und wer die fachliche Führung habe, geklärt und festgelegt werden müsse. «Es sei hierbei wichtig, zwischen der Bereitstellung von Fachwissen («Science for Policy») und der Unterstützung von forschungspolitischen Entscheiden («Policy for Science») zu unterscheiden.»

Gestützt sind wissenschaftliche Aussagen in der Regel auf Modelle. Dazu werden Annahmen getroffen, Parameter definiert und Szenarien entwickelt. Dabei ist offensichtlich, dass je nach Änderung dieser Ausgangslage unterschiedliche Modellaussagen resultieren. Der Diskussion von Ausgangslage und deren Wahrscheinlichkeiten oder anders gesagt von verschiedenen Szenarien kommt somit eine wichtige Rolle zu.

Es ist gerade das Kennzeichen von Wissenschaft, dass sie ihre eigenen Aussagen laufend kritisch hinterfragt bzw. gezielt infrage stellt. Denn die wissenschaftliche Methode ist letztlich die organisierte und transparente Skepsis. Dieser Diskussionsprozess muss ebenso in der Öffentlichkeit transparent zur Darstellung kommen. Wissenschaftliche Aussagen können höchstens einen Ist-Zustand erläutern und erklären. Aus dem «Ist» folgt kein «Soll» – schon auf gar keinen Fall ein «politisches Soll».

«Es fehlte eine ausgewogene Balance zwischen den Ansprüchen von Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft.»

Ich erinnere mich noch gut an das wissenschaftliche Modell anfangs 2021, das dem zweiten Lockdown zu Grunde lag. Es warnte vor einem exponentiellen Anstieg der Fallentwicklung – und erwies sich im Nachhinein als falsch, was selbst die Präsidentin der TF eingestand. Ich habe damals im erweiterten Covid-Krisenstab die Frage nach der Wahrscheinlichkeit, den Standardabweichungen und den zugrunde gelegten Parametern gestellt. Anstatt einer Antwort wurde mir am Beispiel eines Bucheinkaufs in einem Bahnhofgeschäft erklärt, warum und weshalb möglichst viele Kontakte vermieden werden müssten. Bei allem Respekt, damit ist weder dem politischen Meinungsbildungsprozess gedient noch werden die unterschiedlichen Stakeholder ernst genommen.

In letzter Konsequenz ist in einer direkten Demokratie ebenso die Feststellung von Bedeutung, dass in der politischen Diskussion deren Entscheidträger – also Exekutive und Legislative, allenfalls das Stimmvolk – das letzte Wort haben. Damit verbunden ist in der Konsequenz allerdings auch die Übernahme der politischen Verantwortung.

Zentral für den Dialog ist im Weiteren die Tatsache, dass die genau gleichen politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen gelten. Es wäre falsch, hier eine Sonderstellung der Wissenschaften reklamieren zu wollen. Ich habe das in der Ausgangslage am Beispiel der ausserparlamentarischen Kommissionen deutlich zum Ausdruck gebracht.

Dass es auch positive Beispiele in der Pandemie gab, zeigte die Rolle der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF). Der Verwaltungsbericht hält zu Recht fest: «Hilfreich sei gewesen, dass die EKIF eine erkennbare Rolle für die Verwaltung innehatte. (…) Dank ihrer klaren institutionellen Rolle als ausserparlamentarische Kommission hätte sie eine grössere Unabhängigkeit als die Science Task Force gehabt.»

Im Dialog Wissenschaft/Politik muss die Wissenschaft demzufolge den Unterschied machen zwischen ihrer institutionellen Rolle und dem Auftritt als politische Akteurin. Dies nahm die Science Task Force nach Meinung des sgv nicht wahr. Im Gegenteil, sie trat selber als politische Akteurin mit eigener Agenda auf, publizierte auf ihrer Homepage ihre Positionen («policy briefs») und kommunizierte diese dementsprechend, ohne den vorher gemachten Unterschied zu deklarieren.

Gewichtung von Zielkonflikten

Ein wesentliches Problem in der Krisenführung dieser Pandemie bestand in der nicht vorgenommenen bzw. ungenügenden Gewichtung von Zielkonflikten und damit im Verlust der Balance unterschiedlicher Zielsetzungen in der Entscheidfindung. In der Pandemie wurden unter anderem die Zielkonflikte zwischen Gesundheits-, Wirtschafts- sowie Sozialpolitik ignoriert. Das führte zu einer Einseitigkeit aller Massnahmen. Die Balance zwischen den unterschiedlichen, berechtigten Dossiers muss in den Mittelpunkt der Entscheidungsfindung rücken.

Damit die Rolle der Wissenschaften für die Krisenbewältigung in einem nächsten Fallereignis, aber auch ganz generell im politischen Meinungsbildungsprozess nicht weiterhin unklar bleibt, ein letztes Mal der Verwaltungsbericht: «Die Rolle eines allfälligen Beratungsgremiums in einer Krise muss geklärt und seine Zuordnung, Zusammenarbeit und Zusammensetzung müssen definiert werden.»

Hans-Ulrich Bigler, Direktor sgv

COVID-DEbatte

Zulasten weniger Branchen

Teil der Veranstaltung war eine kontroverse Debatte zwischen Marcel Salathé, Präsident der Leitungsgruppe NFP 78, und Casimir Platzer. Der GastroSuisse-Präsident erklärte, dass die Covid-Massnahmen zulasten weniger Branchen gegangen seien. Zudem monierte er, dass die Task Force jeweils sehr steile Ansteckungskurven gezeigt habe, die sich selten bewahrheitet hätten, die aber öffentlichen Druck für härtere Massnahmen erzeugt hätten. Salathé erwiderte, dass die Task Force mit ihren Policy Briefs im Vorfeld der Bundesratssitzungen das Gebot der Transparenz und keineswegs politische Ziele verfolgt habe.Red

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