Publiziert am: 12.05.2021

«Fachberatung ist zwingend»

JÜRG STAHL – Der oberste Drogist der Schweiz zur Rolle der Drogerien in der Pandemie, zu ihrem Beitrag zur Eindämmung der Gesundheitskosten und zur Wichtigkeit einer qualifizierten Beratung im Medikamentenbereich.

Schweizerische Gewerbezeitung: Wie viele Drogerien existieren heute in der Schweiz, und wie hat sich ihre Zahl in den letzten zehn Jahren verändert?

Jürg Stahl: Heute sind rund 470 Betriebe in der Deutsch- und der Westschweiz Mitglieder des Schweizerischen Drogistenverbandes (SDV) – das sind über 90 Prozent aller Schweizer Drogerien. Innerhalb der letzten zehn Jahre ist die Gesamtanzahl der Drogeriestandorte um rund 17 Prozent gesunken. Das ist zwar auf den ersten Blick uner­freulich. Wenn man sich die Gründe dafür anschaut, dann relativiert sich das Bild: Die Zahl der Drogerien, die der SDV in seiner Standortanalyse vor zehn Jahren als Betriebe mit Zukunftspotenzial taxiert hat, ist absolut stabil geblieben. Das stimmt uns sehr positiv.

Weiter ist zwischen 2010 und 2020 eine beträchtliche Anzahl Drogerien in Apotheken/Drogerien umgewandelt worden. Zudem hat in der Drogeriebranche eine Konzentration stattgefunden: Sie verfügt zwar über weniger Standorte, erzielt aber mit mehr als 890 Millionen Franken gesamthaft einen um fünf Prozent höheren Jahresumsatz als noch vor zehn Jahren.

«OHNE MEHRLEISTUNG VERLANGEN BANKEN HÖHERE GEBÜHREN, WENN MIT DEBITKARTEN BEZAHLT WIRD.»

Mit welchen Herausforderungen haben Schweizer Drogerien heute zu kämpfen?

Der administrative Aufwand und die behördlichen Auflagen wachsen stetig und werden allmählich zur Belastung. Jedenfalls steht der bürokratische Aufwand bei vielen Vorschriften in keinem Verhältnis zum Nutzen, der angestrebt wird – ein Problem, das der Gewerbeverband ja auch erkannt hat und seit längerem dagegen ankämpft.

Dazu sind die Mieten in Innenstädten, aber auch in manchen Einkaufszentren vor allem für kleinere Drogerien oftmals nicht mehr tragbar. Und jetzt verlangen die Banken – notabene ohne Mehrleistung –noch höhere Gebühren, wenn die Kundschaft mit Debitkarten bezahlt.

Was uns hingegen freut: Kundinnen und Kunden sind generell anspruchsvoller und wünschen sich mehr Beratung. Genau hier können Drogistinnen und Drogisten mit ihrer Fachkompetenz und Kundenorientierung punkten. Das ist eine gute Ausgangslage, um sich mit der Drogerie vor Ort gegen den zunehmenden Onlinehandel zu behaupten.

Wie sind die Drogistinnen und Drogisten und ihre Angestellten bisher durch die Corona-Krise gekommen?

Die Drogerien leisten seit Beginn der Pandemie hervorragende Arbeit. Ich kenne zahlreiche Drogerien, die tagsüber ohne Unterbrechung für ihre Kunden da waren und in der Nacht Handdesinfektionsmittel produzierten, um nicht nur Privathaushalte, sondern auch lokale Arztpraxen, Therapieeinrichtungen oder Lebensmittelläden zu versorgen.

Welche Leistungen sind in den Drogerien im Moment besonders gefragt?

Viele Drogerien waren noch mehr als üblich erste Anlaufstelle in Gesundheitsfragen. Gerade in ländlicheren Gegenden blieben viele Menschen aufgrund von Homeoffice zu Hause im Dorf und holten sich gerade in Fragen zur Stärkung des Immunsystems und Prävention Rat und Tat in der Drogerie. Als Ver­sorgerinnen der Bevölkerung mit Hygieneschutzmasken, Desinfektionsmitteln und Medikamenten leisteten und leisten die Drogerien einen grossen Beitrag zur Bewältigung der Corona-Pandemie.

In Apotheken werden heute Corona-Impfungen vorgenommen, in den Drogerien nicht: Weshalb ist das so?

Die Gesetzgebung in der Schweiz erlaubt das Impfen nur Ärztinnen und Ärzten sowie Apothekerinnen und Apothekern, letzteren sogar nur, wenn sie eine spezifische Weiter­bildung absolviert haben. Drogerien haben daher keine Möglichkeit, eine Impfbewilligung zu erhalten.

Apotheken und Drogerien haben während der Corona-Krise die Erlaubnis, rezeptfreie Arzneimittel nach telefonischer Fachberatung auch Menschen nach Hause zu liefern, die nicht zu ihrer Stammkundschaft gehören. Wie gross ist dieses Bedürfnis, und wer nimmt diese Dienstleistung vor allem in Anspruch?

Diese Dienstleistung haben die beiden Verbände SDV und pharmaSuisse während des ersten Lockdowns gemeinsam innert kürzester Zeit auf die Beine gestellt. Sie ermöglicht insbesondere Personen, die speziell geschützt werden müssen, eine sichere und zeitnahe Versorgung mit notwendigen, nichtverschreibungspflichtigen Arzneimitteln.

Schweizerinnen und Schweizer sind Meister in der Selbstmedi­kation und helfen damit, Kosten im Gesundheitswesen einzu­sparen. Welche Rolle kommt den Drogerien dabei zu?

Eine grosse, aber leider oft unterschätzte Rolle! Ohne Drogerien wären die Krankenkassenprämien noch höher, denn als erste Anlaufstellen beraten Drogerien Menschen, die auf Selbstmedikation vertrauen und die Kosten dafür selber tragen. Die Beratungsleistung geht aber noch viel weiter: Prävention, Stärkung des Immunsystems, Komplementärmedizin wie Phytotherapie, Spagyrik oder Homöopathie, Schönheit … die Beratung in den Drogerien ist wirklich umfassend.

Wie steht es um die Patientensicherheit im Bereich Selbst­medikation?

Fachberatung ist besonders bei der Wahl und Anwendung von Arzneimitteln der Selbstmedikation unabdingbar, um jederzeit die Patientensicherheit zu gewährleisten. Dank der achtjährigen Ausbildung zur Drogistin HF, zum Drogisten HF wird diese Fachberatung in einer Drogerie tagtäglich gelebt.

Zu Diskussionen in der Branche führen die so genannten E-Rezepte, und der Versand von Medikamenten ohne ärztliche Verordnung direkt an die Verbraucher. Ist dieser Weg im Jahr 2021 nicht einfach der zielführendste?

Arzneimittel sind nie Alltagsgüter und benötigen immer eine Fachberatung vor der Abgabe, nur so kann sichergestellt werden, dass die Patientensicherheit gewährleistet bleibt. Dank der umfassenden Beratung können Drogistinnen und Drogisten einschätzen, welches Arzneimittel das passendste ist, wann eine Einnahme unproblematisch und wann Vorsicht geboten ist.

«DER BÜROKRATISCHE AUFWAND STEHT BEI VIELEN VORSCHRIFTEN IN KEINEM VERHÄLTNIS ZUM NUTZEN.»

Beim Medikamentenkauf geht es auch um Vertrauen. Dennoch die Frage: Sträubt sich der Handel vor dem Hintergrund der Digitalisierung nicht einfach gegen eine unbequeme Konkurrenz, wenn er den Versandhandel ablehnt?

Die Drogerien – und nebenbei: auch die Apotheken – sträuben sich überhaupt nicht gegen unbequeme Konkurrenz. Aber sie bestehen darauf, dass im Interesse der Patientensicherheit vor dem Versand von Medikamenten die gleich qualifizierte Fachberatung erfolgt, wie sie vor Ort stattfindet.

Weshalb ist es weiterhin wichtig, dass der Medikamentenverkauf stationär stattfindet?

Die persönliche Beratung, der Dialog mit der Kundschaft und die geografische Nähe sind durch nichts zu ersetzen. Zu glauben, der Fachhandel vor Ort sei ein Auslaufmodell und alle bestellten ihre Medikamente einfach im Internet, ist schlicht falsch. Schliesslich steht bei Medikamenten die Gesundheit von Menschen auf dem Spiel.

Interview: Gerhard Enggist

www.drogistenverband.ch

ZUR PERSON

Der 53-jährige Jürg Stahl ist seit Juli 2018 Präsident des Schweizerischen Drogistenverbands. Er war von 1996 bis 2004 Inhaber einer eigenen Drogerie. Von 1999 bis 2019 vertrat der in Brütten bei Winterthur wohnhafte Stahl die Zürcher SVP im Nationalrat, den er 2016/17 präsidierte. Heute ist Stahl Präsident von Swiss Olympic und Präsident des Stiftungsrats Schweizer Nationalfonds.En

www.juergstahl.ch

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