Publiziert am: 14.08.2020

Flexibilisierung muss bleiben

PRODUKTIVITÄT – Noch im Mai hatte der sgv berechnet: Die Arbeitsproduktivität der Schweizer Wirtschaft ist während des Lockdowns stark angestiegen. Die heutigen Zahlen zeigen: Der Anstieg ist nicht mehr so gross, doch der Effekt bleibt.

Schon länger ist zu vernehmen: In den Universitäten und Bundesämtern ist man besorgt über das tiefe Wachstum der Schweizer Produktivität. Sie ist definiert als Wertschöpfung – gemessen im Bruttoinlandprodukt (BIP) – geteilt durch die geleisteten und bezahlten Arbeitsstunden. Das Resultat lautet: Franken pro Stunde.

Das Problem ist nicht so sehr, dass sich diese Zahl über die Jahre nicht verbessern würde, sondern dass sie es nur in einem langsamen Tempo tut. Lag das Wachstum der Produktivität vor 40 Jahren noch bei etwa vier Prozent pro Jahr, beträgt es heute kaum ein Prozent.

Die Erhöhung der Produktivität ist wichtig, weil damit auch der Lebensstandard verbessert wird. Höhere Produktivität bedeutet höhere Löhne. Für Betriebe bedeutet höhere Produktivität mehr Investition, höhere Kapitalerneuerung und höhere Gewinne.

Zwei Rätsel

In diesem Zusammenhang gibt es ein Phänomen, das als «Rätsel der Produktivität» benannt wird. Die Frage lautet: Wie kann es sein, dass moderne Dienstleistungsgesellschaften langsameres Produktivitätswachstum aufweisen als früher?

Im Fall der Schweiz ist die Lage noch ausgeprägter. Unser Land ist – zusammen mit den USA – eines jener Länder, das pro Kopf der Bevölkerung am meisten in Digitalisierung investiert. Trotzdem ist ihr Produktivitätswachstum – genauso wie jenes in den USA – kleiner als jenes von Deutschland, Österreich oder etwa Frankreich.

«SOLL DER PRODUKTIVITÄTS-EFFEKT ERHALTEN BLEIBEN, SO MÜSSEN AUCH DIE VEREINFACHUNGEN BLEIBEN.»

Während dieses erste Rätsel die Wissenschaft in Schach und das Staatssekretariat für Wirtschaft auf Trab hielt, tat sich während des Lockdowns ein zweites Rätsel auf: Wie kann es sein, dass ausgerechnet während einer Rezession mit faktischem Arbeitsverbot die Produk­tivität der Arbeit in die Höhe geschnellt ist?

Produktivitätsexplosion

Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Im Lockdown ist das BIP zurückgegangen, doch die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden wurde wegen der Kurzarbeit noch stärker reduziert. Damit wurde das Resultat der Berechnung grösser als zuvor.

Wie gross? Zur Erinnerung: Zwischen den Jahren 2010 und 2019 ist die Arbeitsproduktivität der Schweiz um circa ein Prozent im Jahr gewachsen. Die erste Berechnung im Jahr 2020 – gemacht wurde sie Ende April – zeigte ein Wachstum von fast 20 Prozent im Lockdown. Das ist eine veritable Explosion. Die zweite Berechnung im Jahr 2020 – sie stammt von Ende Juli – zeigte ein Produktivitätswachstum von fast 10 Prozent an.

Momentaufnahmen

Warum dieser Unterschied? Die einfachste Antwort lautet: Die Resultate sind Momentaufnahmen. Sie zeigen die Veränderung des BIP und des Arbeitseinsatzes zum Zeitpunkt der Berechnung. Doch aus dem Zeitpunkt lässt sich keine Zukunft voraussagen. Es muss nur eine zeitpunktgebundene Komponente minimal verändert werden, und schon wirkt sich das überproportional auf das Resultat aus. In diesem Fall waren es sogar beide: Die Schätzung des BIP ist während des laufenden Jahres wiederholt gegen unten revidiert worden. Zudem ging der Arbeitseinsatz nicht so stark zurück, wie ursprünglich angenommen. Eine kleinere Zahl über dem Bruchstrich und eine grössere darunter ergeben ein kleineres Resultat. Sind all diese Messungen für die Katz?

Wertvoll – mit Vorbehalt

Was interessiert, sind nicht die Zahlen, sondern die Richtung, die sie aufzeigen. Damit weisen die Produktivitätszahlen der Schweiz auf folgende Punkte hin: Die markante Erhöhung der Arbeitsproduktivität weist auf vorhandenes Potenzial hin, sie auch unabhängig der Krise zu steigern. Während der Krise ist Arbeit rationeller geplant und ausgeführt worden. Das kann auch nach der Rezession so bleiben. Während der Krise ist vermehrt auch digitalisiert worden – was auch so bleiben kann.

Während des Lockdowns sind aber auch administrative Vereinfachungen in Kraft getreten. Die Kurzarbeit wurde vereinfacht; die Arbeitszeit wurde flexibilisiert; und sogenanntes Homeoffice wurde erlaubt – man durfte staunen, ist diese Fern­arbeit in der «normalen Lage» doch alles andere als legal, weil das geltende Arbeitsgesetz dies eigentlich gar nicht zulässt. Genau solche Vereinfachungen aber müssen bleiben, wenn der Produktivitätseffekt nachhaltig bleiben soll.

Henrique Schneider,

Stv. Direktor sgv

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