Publiziert am: 08.02.2019

«Gewerbefleiss» und «Liebe zum Vaterland»

In meinen jungen Jahren habe ich im Elternhaus wenig von Schweizer Politik vernommen. Das war kein Thema. Schwer beeindruckt haben mich aber die Erzählungen meines Grossvaters, Spross einer Ausland-Schweizer-Familie, die in Ostpreussen ihr Auskommen suchte. Er erlebte als Berufsfeuerwehrmann in Königsberg das entsetzliche Inferno der Bombardierungen und Feuerstürme im Zweiten Weltkrieg. Dieses Kriegstrauma inklusive Todesopfer in der Familie und die schliessliche Flucht zurück ins Heimatland war bei uns allgegenwärtig. Die Schweiz war für die erschöpften Heimkehrer schlicht das Paradies: unversehrt, wohlhabend, glücklich. Und unser Wohnort Kloten eine einzigartige Mischung von bäuerlich-handwerklicher Verwurzelung und dem Flughafen als Tor in alle Welt hinaus.

Erst später packte mich die Neugier. Ich wollte wissen, warum die Schweiz nicht in den Strudel der grossen Kriege hineingerissen wurde. Die Antworten befriedigten mich nicht: Es sei Zufall beziehungsweise ein gnädiges Geschick gewesen. Oder: Die Kriegführenden hätten von einer unversehrten Schweiz mehr profitiert. Etwas näherliegend schien mir schon der Gedanke, dass die Schweizer zum Ausgleich neigen und pfleglich mit Minderheiten oder Unterlegenen umgehen – genau wie der siegende Schwinger dem Verlierer das Sägemehl vom Rücken abklopft. Erst später fand ich aber den plausibelsten Grund: die schweizerischen Staatssäulen Unabhängigkeit, direkte Demokratie, bewaffnete Neutralität und Föderalismus. Wir Bürger sind die Chefs. Und wir dulden keine Monarchen, Präsidenten oder Diktatoren, welche die Macht haben, uns in Kriege und Konflikte zu stürzen.

Wenn dieHerrschenden sich zu viel herausnahmen – das geschah schon früher vor allem in den Städten – dann erhob sich das vernünftige Landvolk und stutzte die übermütigen Herren zurück: so bei Bürgermeister Hans Waldmann, in den Bauernkriegen, beim Franzoseneinfall, am Ustertag und an andern liberalen Volksversammlungen oder beim Sturz des «Systems» von Alfred Escher und dem Durchbruch der direkten Demokratie.

In der Schule habe ich von all dem so gut wie nichts vernommen. Mir wurde das Wesen unseres Staates und sein organisches Werden über die Jahrhunderte so gut wie gar nicht nähergebracht. Dabei war gerade unser Schulwesen wesentlich beteiligt, dass die Schweiz vom Armenhaus Europas zu einem der wohlhabendsten Länder aufgestiegen ist. Ein Engländer, der im 19. Jahrhundert unser Land bereist hat, war voll des Lobes über unser Bildungswesen, seien es Volksschule, Sekundarschule, Lehrerseminare, Berufsschulen, Industrieschulen, Gymnasien oder Hochschulen. Zwei Dinge waren es, die ihm hauptsächlich ins Auge fielen: An den Schweizer Schulen würde der «Gewerbefleiss» vermittelt, also weder Reit- noch Fechtunterricht, weder Lyrik noch Rhetorik. Dafür so nützliche Dinge wie Lesen, Rechnen und Schreiben. Und das Zweite, das diesem Engländer Touristen auffiel: Die Lehrer vermittelten ihren Schülern die «Liebe zu Volk und Vaterland».

Gerade davon ist leider an unseren Schulen so gut wie nichts übriggeblieben. Wer von unseren Kindern und Jugendlichen weiss noch etwas über die Schweizer Geschichte? Wer etwas über die staatspolitische Bedeutung unseres weltweiten Sonderfalls, in dem ein Schweizer in einem Jahr mehr abstimmen und wählen darf, als ein Engländer in seinem ganzen Leben? Wer kennt noch die Merkmale unserer besonderen Staatssäulen? Wer weiss noch, dass im Zweckartikel unserer Bundesverfassung steht, dass die Eidgenossenschaft die «Unabhängigkeit des Landes» und die «Rechte des Volkes» verteidigen muss?

Am allerwenigsten scheinen davon jene Bundesräte, Parlamentarier, Wirtschaftsbürokraten und Manager zu verstehen, welche die Schweiz jetzt zur Unterzeichnung des institutionellen Rahmenabkommens drängen wollen. Denn wenn künftig Volk, Stände und Parlament als Gesetzgeber ausgeschaltet werden, wenn wir EU-Recht übernehmen und EU-Richter anerkennen sollen, wenn wir Strafmassnahmen zu gewärtigen haben und Tributzahlungen in vielfacher Milliardenhöhe leisten müssen – spätestens dann ist die Schweiz nicht mehr die Schweiz.

*Der Zürcher SVP-Nationalrat Roger Köppel ist Chefre­daktor und Verleger des Wochenmagazins «Die Weltwoche».

www.weltwoche.ch

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