Publiziert am: 21.10.2022

Ich verstehe nur noch Bahnhof!

Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber ich muss gestehen, dass ich aufgrund der Schlagzeilen der letzten Monate verwirrt bin.

Der Versuch, meine Gedanken zu ordnen und die aktuellen Entwicklungen sowohl national wie auch international zu verstehen, lösen meine Verwirrung nicht. Ganz im Gegenteil, ich verstehe immer weniger.

Also, wir haben eine drohende Gas- und Energiekrise, welche noch im Frühling vom Bundesbern in Abrede gestellt wurde. Es vergeht nunmehr kein Tag ohne Schreckensmeldungen wie z. B. die Verzehnfachung der Energiepreise für gewisse Unternehmen. Und es tobt nach wie vor ein irrsinniger und unmenschlicher Krieg nicht weit von uns entfernt. Dieser wird sicherlich noch länger andauern, und er hat grosses Potenzial für einen Flächenbrand oder sogar Schlimmeres. Die Inflation grassiert in Höhen, welche seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen wurden. Die Rohstoffpreise sind immer noch im Steigen, und immer mehr Lieferanten erheben zusätzlich Energiezuschläge.

Auch wenn die Schweiz mit knapp 3,5 Prozent Inflation noch gut dasteht, wird bei dieser Beurteilung ausser Acht gelassen, dass es der schwache Euro mit knapp zehn Prozent Wertverlust in weniger als sechs Monaten ist, welcher die Inflation bislang in der Schweiz im Zaum gehalten hat. In der Presse las man in den letzten Monaten wenig über eine drohende Rezession oder Stagflation. Stattdessen beklagen sich die Schweizer Unternehmen weiterhin über fehlende Arbeitskräfte und die immer noch gestörten Lieferketten, beides Hinderungsgründe, um die gefüllten Auftragsbücher abzuarbeiten.

Ist die Schweiz wirklich wieder mal eine Insel, oder überschätzen wir die Resilienz unseres Landes? Im europäischen Umfeld sieht man bereits massive Rezessionsängste: Investitionen werden gestoppt oder auf unbestimmte Zeit verschoben. Wie so oft wollen die meisten in Zeiten fundamentaler Unsicherheit ihr Geld nicht irreversibel binden. Folglich stehen auch in absehbarerer Zeit unsere Jobs und damit unser Wohlstand auf dem Spiel und es ist zu befürchten, dass es nicht nur klimatisch einen kalten Winter geben wird.

Mit deutlichen Worten: Es kommen gewaltige Herausforderungen auf die Schweiz zu. Die Herausforderungen können nur gemeinsam und mit neuen Ansätzen gelöst werden. Der Ruf nach weiteren Entlastungspaketen löst das Problem nicht, insbesondere, wenn die Verteidigung von alten Pfründen im Vordergrund steht. So ist z. B. der nächste medial bereits angekündigte Prämienschock bei den Krankenkassen bereits eingetroffen.

Weitere massive Kostensteigerungen stehen uns bevor, doch Behörden und Politik verhindern Ansätze für Kostensenkungen. Gleichzeitig sollen weitere Hilfs- oder Entlastungspakete geschnürt werden, und die Finanzen der öffentlichen Hand dürfen nicht aus dem Ruder laufen. Folglich müssen zusätzliche Einnahmen generiert werden. Hierfür muss aber die Wirtschaft prosperieren, und ich befürchte, dass das Gegenteil eintreten wird. Also, es muss viel Konstruktives konkret auf den Weg gebracht werden.

Doch was passiert währenddessen? Spätestens seit dem Auftritt der Berner Mundart-Band Lauwarm im Juli dieses Jahres (und ihren Rasta-Frisuren) ist der Woke-Wahnsinn nun auch in der Schweiz angekommen. Mittlerweile habe ich Begriffe wie «kulturelle Aneignung», «Cancel Culture» und «Identitätspolitik» gelernt und staune über die konsequente Realitätsverweigerung dieser Gruppen. Es geht sogar so weit, dass linke Aktivisten versuchen, den öffentlichen Diskurs mit Verboten und Verunglimpfungen derart einzuschränken, dass Meinungen, Ideen und Gedanken nicht mehr frei ausgetauscht werden dürfen. Diese sich verbreitende Radikalisierung macht mir Angst, denn auch die Medien treten ihr nicht entschieden entgegen und fördern sie damit indirekt noch.

Wir müssen Ideen, Meinungen und Gedanken frei austauschen können, wenn wir für die gewaltigen Herausfor-derungen nachhaltige Lösungen finden wollen. Verbote und eine linksradikale Diktatur sind hier absolut kontraproduktiv, da sie dringend benötigte Ressourcen von den wirklichen Problemen abziehen. Aber vielleicht ist es einfacher, sich über Gendersternchen zu unterhalten als sich den grossen Problemen des 21. Jahrhunderts zu stellen. Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht mehr. Schöne Aussichten!

* Lionel Schlessinger ist Inhaber und CEO der Monopol Colors und ehemaliger Präsident des Verbandes der Schweizerischen Lack- und Farbenindustrie.

www.monopol-colors.ch

www.vslf.ch

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