Publiziert am: 03.10.2014

«Im Alltag gehts meist gar nicht ohne»

SPRACHENSTREIT – Die Diskussionen um Sinn oder Unsinn des «Frühfranzösisch» erhitzen die Gemüter beidseits der Sense.
sgv-Direktor Hans-Ulrich Bigler plädiert für das frühe Erlernen der zweiten Landessprache – weil sie für die KMU unverzichtbar ist.

Hitzetage gab es kaum im verregneten Sommer 2014. Für heisse Köpfe war dennoch gesorgt: Das Thema «Frühfranzösisch» brachte die Gemüter beidseits des Röstigrabens in Wallung. Der Streit, ob Französisch oder Englisch als erste Fremdsprache an Deutschschweizer Schulen erlernt werden soll, gab vom Boden- bis an den Genfersee viel zu reden und zu schreiben.

Kantone gegen Frühfranzösisch

Im Thurgau wurde die Regierung per Motion angewiesen, den Frühfranzösischunterricht von der Primarstufe in die Sekundarschule zu verschieben. In Schaffhausen will das Parlament, dass auf der Primarstufe nur noch eine Fremdsprache unterrichtet wird. In St. Gallen und Solothurn wird der Sinn von Frühfranzösisch auf Primarstufe in Frage gestellt, ohne dass bereits Änderungen beschlossen worden wären. Und in Nidwalden schliesslich will die Regierung den Französischunterricht in der Primarschule abschaffen, dafür aber in der Oberstufe mehr Lektionen anbieten.

«FRANZÖSISCH HAT BEI UNSEREN KMU EINE HOHE BEDEUTUNG.»

Der Fremdsprachenunterricht in Nidwalden – wie auch jener in den übrigen Deutschschweizer Kantonen – orientiert sich an der Sprachenstrategie der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). Diese sieht vor, dass die ersten beiden Fremdsprachen auf der Primarstufe spätestens ab der 3. resp. 5. Klasse unterrichtet werden. In den vergangenen Jahren wurde nicht nur in Nidwalden Kritik laut, dass zwei Fremdsprachen an der Primarschule viele Schülerinnen und Schüler – und wohl auch Lehrer – überforderten.

Der Nidwaldner Entscheid – das Volk befindet darüber voraussichtlich im März 2015 – stiess nicht nur in der Romandie auf Kritik. «Das Nein zum Frühfranzösisch ist kein Nein zur Romandie», wehrt sich der Nidwaldner Bildungsdirektor Res Schmid. Im Gegenteil: «Aus Sicht des Regierungsrats soll durch diese Massnahmen der wichtige nationale Zusammenhalt gestärkt werden.»

Sorgen um den Zusammenhalt

In der Romandie mag man diesen Beteuerungen nicht recht glauben und fürchtet um den nationalen Zusammenhalt. Und nicht nur der Politik bereitet diese Entwicklung Sorgen. Auch der Wirtschaft kann es nicht egal sein, sollte die Sprache Molières gegenüber jener von Shakespeare ins Hintertreffen geraten.

So plädiert Hans-Ulrich Bigler, der Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands sgv, für Frühfranzösisch. Er weist einerseits auf die staatspolitische Bedeutung des Erlernens einer zweiten Landessprache hin. «Das ist für den kulturellen Zusammenhalt der Willensnation Schweiz wichtig. Es wäre für unser Land ein Armutszeugnis, wenn sich Deutschschweizer und Romands in Englisch unterhalten müssten.» Dies sei keineswegs ein Votum gegen das Englische, betont der Gewerbedirektor. Doch es sei klar: «Französisch hat bei KMU eine hohe Bedeutung.» Vor allem für die Binnenwirtschaft seien gute Französischkenntnisse wichtig.

Nutzen im Geschäftsalltag

Tatsächlich ist «es guets Franz» aus zahlreichen Berufsbildern nicht wegzudenken. Wer könnte sich eine Réceptionistin oder einen Servicefachmann ohne gute Französischkenntnisse vorstellen? Wie sollten Gesundheitsfachangestellte, Mitarbeiter im Detailhandel oder KV-Angestellte mobil bleiben, ohne die zweite Landessprache zu beherrschen? Und wie wollten Carrossiers oder Inhaber von Auto­garagen an der Sprachgrenze mit ihrer welschen Kundschaft kommunizieren?

«Viele Partnerbetriebe stehen in der Romandie oder in anderssprachigen Landesteilen», sagt Bigler. «Deshalb ist es sinnvoll, dass die künftigen Mitarbeitenden primär eine Landessprache als erste Fremdsprache lernen.» In manchen Branchen sei Französisch gar wichtiger als Englisch. Und spätestens in den Branchenverbänden, in der höheren Berufsbildung oder bei Verhandlungen mit der Kantons- oder Bundesverwaltung komme man ohne ein einigermassen passables Französisch gar nicht über die Runden. Und nicht zuletzt im Militär seien Franz-Kenntnisse ganz einfach unverzichtbar. Kurz und gut: «Ob wir wollen oder nicht: Ums gründliche Erlernen des Französischen kommen wir nicht herum. Darum macht es Sinn, möglichst früh damit zu beginnen.»

Andrang in den Zentren

Während in den Regionen ums Frühfranzösisch gerungen wird, präsentiert sich die Lage in den Zentren der Deutschschweiz völlig anders. Wer etwa in Zürich seine Kinder schon im zarten Alter von drei bis sechs Jahren mehrsprachig fördern möchte, muss vielerorts lange Wartefristen in Kauf nehmen. Anders beim Lycée Français de Zurich: Die 1956 gegründete Französische Schule hat ihr entsprechendes Angebot stark ausgebaut. «Wir reagieren so auf das starke Bevölkerungswachstum in der Schweiz», sagt Schulleiterin Brigitte Renn. «Wir rechnen in den kommenden Jahren mit einem weiterhin hohen Bevölkerungswachstum und damit mit einer starken Nachfrage nach mehrsprachigen Bildungswegen für Kinder und Jugendliche. ln den letzten zehn Jahren hatten wir jährlich im Durchschnitt fünf Prozent mehr Schüler. Mit über 700 Schülern stellt das Lycée Français de Zurich heute einen wesentlichen wirtschaftlichen, kulturellen und integrativen Faktor für die Region und den Kanton Zürich dar.»

Druck von oben

Christoph Eymann, Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), hält an der EDK- Sprachenstrategie fest, wonach Deutschschweizer Primarschüler zwei Fremdsprachen lernen sollen. «Wir können und werden in der Sache hart sein, wenn es anders nicht geht», sagte Eymann gegenüber der «SonntagsZeitung». Die Streichung des Frühfranzösisch aus in einzelnen Kantonen verstosse gegen die Verfassung. «Das Modell 3/5, also die erste Fremdsprache ab der 3. Klasse zu unterrichten, die zweite ab der 5. Klasse, werden wir durchsetzen.»

Support gibt’s auch von ganz oben: Bundesrat Alain Berset fordert, dass jeder Kanton bei seinen Entscheiden auch das Wohl des ganzen Landes im Auge behalten müsse. «Föderalismus heisst nicht einfach: Jeder macht auf seinem Gebiet, was er will, egal was dies für die Schweiz bedeutet», sagte der Innenminister gegenüber der NZZ. Und seine Partei, die SP, will eine zweite Landessprache in der Primarschule neuerdings gar im Sprachengesetz verankern.

Das letzte Wort im Schweizer Sprachenstreit ist also noch lange nicht gesprochen. Histoire à suivre, alors.

Gerhard Enggist

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