Publiziert am: 02.10.2020

Im Mittelpunkt steht der Mensch – und allen im Weg

Ich kann mir den Aufschrei einiger Leser vorstellen, und dennoch setze ich mich gleich bewusst in die Nesseln: Unsere westliche Gesellschaft ist derart damit beschäftigt, alles politisch korrekt und gender-neutral zu formulieren und irgendwelche scheinbaren Beleidigungen in Anreden oder Formulierungen zu eliminieren, dass wir vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Wir konzentrieren uns auf die Form, und der Leitsatz «Form follows func­tion» gerät immer mehr in Vergessenheit. Die Funktion oder der Sinn werden zweitrangig, so sehr sind wir mit der korrekten Form beschäftigt.

Grossunternehmen treiben diese Entwicklung munter voran. Im Vergleich zu KMU zahlen sie höhere Saläre, locken potenzielle Mitarbeitende mit Fitness-Abos und Gratis-ÖV. Die Grossen wollen damit neue Akzente setzen. Doch stellt sich eine entscheidende Frage: Ersetzt dies die Seele eines Unternehmens und die Sinnhaftigkeit der Arbeit? Ganz sicher nicht – denn eine Unternehmungskultur muss von innen gezündet werden, damit sie nach aussen eine Kraft entwickeln kann.

Es allen recht machen wollen und ja nicht anecken, ist oftmals das heutige Credo. Dies führt zu einem Identitätsverlust – und wenn man bekanntlich nach allen Seiten offen ist, ist man damit auch nicht ganz dicht! Es geht bei der Unternehmungsführung nicht darum, keine Fehler zu machen. Alle machen Fehler. Es geht vielmehr darum, zu seinen Fehlern zu stehen und, vor allem, aus diesen zu lernen. Damit schafft die Führung Vertrauen. Es entsteht ein Miteinander statt ein Gegeneinander.

Kultur wächst organisch und ist die schwierigste Aufgabe eines Unternehmens und dessen Verantwortlichen. Gerade in Krisenzeiten ist die Kultur der wichtigste Kompass. Sie gibt Halt und Orientierung. Dass Unternehmen beispielsweise wegen Corona in Schieflage kommen und handeln müssen, ist eine tragische und unvermeidbare Tatsache. Ich befürchte aber, dass es auch Unternehmen gibt, die unter dem Vorwand der Covid-19-Folgen Entlassungen vornehmen werden – einfach, weil diese Unternehmen ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. So wird die Corona-Krise zum einfach kommunizierbaren Rechtfertigungsgrund. Das Innenbild steht dem gewünschten Aussenbild diametral entgegen.

Statt politisch korrekt und identitätslos einen Einheitsbrei zu predigen, sollten wir uns wieder auf die Essenz konzentrieren: den respektvollen Umgang miteinander, und dies in allen Bereichen der Gesellschaft. Unternehmensverantwortliche müssen zu ihrem Wort stehen. Anonyme Leserkommentare dürfen nicht unter die Gürtellinie zielen. «Wir sind das Volk»-Bewegungen sollten ihre scheinbare Unterdrückung nicht dazu gebrauchen, andere zu unterdrücken. Und last but not least: Althergebrachte Produktnamen und -bezeichnungen dürfen nicht zur Umbenennung gezwungen werden. Denn diese lösen das Problem nicht – der respektvolle Umgang miteinander aber schon.

Die Geschichte zeigt, dass das Weströmische Reich auch wegen der Dekadenz untergegangen ist. So haben Macht und Wohlstand zu einem schleichenden Werteverfall geführt, welcher die ökonomische und militärische Stärke des Imperiums verschwinden liess. Befinden wir uns am selben Punkt und haben wir nichts gelernt? Geht es uns denn so gut, als dass wir es uns leisten können, nur noch an der Form zu feilen, ohne die Inhalte und damit die wahren Probleme anzugehen?

Hier haben KMU eine grosse Chance. Sie sind stark personenbezogen. Menschen wollen und können etwas bewirken. Unter dem Radar der politischen Korrektheit und Neutralität können dort soziale Bedürfnisse wie ein Schulterklopfen (auch in Corona-Zeiten!), ein Gespräch auf Augenhöhe und ein Fluchen quer über alle Hierarchiestufen dazu führen, dass der Mensch wirklich im Mittelpunkt steht. Unternehmenskultur ist ein Versprechen nach innen und aussen. Und wenn wir es intern nicht einhalten können, kann auch keine noch so grosse Werbekampagne dies glaubwürdig nach aussen rüberbringen. Denn im Mittelpunkt des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns steht der Mensch!

* Lionel Schlessinger ist Inhaber und CEO der Monopol Colors und Präsident des Verbandes der Schweizerischen Lack- und Farbenindustrie.

www.monopol-colors.ch

www.vslf.ch

Meist Gelesen