Publiziert am: 05.02.2021

Im Zweifel für den Härtefall

Eigentlich dachten wir, nach dem ersten Lockdown alles geregelt zu haben. Noch bevor der Lenz ins Land gezogen war, hatte der Bundesrat in Windeseile die Hilfsmassnahmen für notleidendes Gewerbe präsentiert, die Kurzarbeit ausgeweitet und vereinfacht, gesetzliche Fristen verlängert oder aufgehoben und mit einem cleveren, effizienten Mechanismus verbürgte Bankkredite in die Wirtschaft gepumpt. Die Liquidität der Unternehmen sollte auf jeden Fall aufrechterhalten, Konkurse vermieden werden. So weit, so gut, das Parlament war der Stossrichtung nicht nur gefolgt, sondern hatte die Staatshilfen sogar erweitert und weitergeflochten – und als Sicherungsmechanismus den Härtefall definiert.

Heute, über neun Monate nach der Verhängung des ersten Lockdowns, fliesst das Hilfsgeld noch immer nicht. Und wie so oft in den letzten Monaten ist der Schuldige schnell gefunden: die Kantone. Einmal mehr war in Bern etwas Kluges entschieden und die Umsetzung pfleglich den Kantonen übertragen worden. Die Härtefallgesuche der ersten Welle waren noch nicht einmal geprüft, als der zweite Lockdown schon beschlossen war. In der Hitze des Gefechts sollte nunmehr jeder Betrieb als Härtefall gelten, der mehr als 40 Tage geschlossen bleiben musste.

So richtig ich diesen Entscheid finde, so wichtig ist es mir, dass wir ihn gründlich durchleuchten. Er hat nämlich weitgehende Konsequenzen, die von Menschen und Unternehmen getragen werden müssen, die an der Entscheidfindung nicht vertreten waren. Denn im Parlament musste die Abgrenzung der Härtefälle, so umstritten sie war, regelrecht durchgepeitscht werden. Die Zeit drängte, und niemand wollte die Unternehmen warten lassen. Das liegt nun über ein halbes Jahr zurück. Dass diese hart errungene Härtefallregelung Makulatur ist, bevor sie richtig zur Anwendung kam, ist nicht sachlich gerechtfertigt, sondern muss dem Versagen des Prüf- und Verteilungsprozederes zugeschrieben werden. Er ist nicht demokratisch zustande gekommen, sondern entspricht einer Resignation gegenüber der Exekutive. Das wäre zu verhindern gewesen.

Das breite Verständnis gegenüber diesem spontanen Korrekturentscheid darf nicht fehlinterpretiert werden: Es gilt den notleidenden Unternehmen, und nicht der Bundesregierung oder den Kantonen. Wir akzeptieren damit nämlich, dass sehr viele Unternehmen, die keine nachhaltige Geschäftsgrundlage vorweisen, mit denjenigen gleichgesetzt werden, die wirtschaftlich gesund waren und ausschliesslich aufgrund der Pandemie in Schwierigkeiten geraten sind. Volkswirtschaftlich, so der Konsens, wäre es ein grösseres Opfer, sowohl die gesunden als auch die ungesunden Unternehmen zu verlieren, als alle zu retten. Aber auch dieses Opfer hat einen Preis, und diesen müssen alle bezahlen. Dannzumal auch die gesunden Unternehmen. Dieser Notentscheid kann und darf nicht der Pandemie zugerechnet werden, sondern lediglich dem Unvermögen von Bund und Kantonen, einen demokra­tischen Entscheid gemeinsam und zielführend umzu­setzen.

Wäre der Ansatz «Im Zweifel ein Härtefall» sachlich gerechtfertigt und demokratisch gewünscht gewesen, wäre er letzten Sommer genau so vom Parlament gewählt worden. Sehr bewusst und intensiv hat sich jedoch das Parlament mit der Verteilgerechtigkeit von Steuergeldern auseinandergesetzt und sich eben gegen diese Pauschallösung entschieden. Die nachträgliche Übersteuerung durch die Regierung ist als Reparatur einer gescheiterten Ausführung gleichzustellen, die uns teuer zu stehen kommen wird. Wenn sich also einzelne Bundesräte «frustriert» zeigen über das Ausmass des Rettungsschirms, so entspricht dies nur ansatzweise der Frustration der Bevölkerung über das Trauerspiel bei der Auszahlung der Härtefallgelder.

Aus Solidarität mit unserem Gewerbe trage ich die neue, pauschale Härtefallregelung mit. Jedoch müssen wir die Insuffizienzen unserer Exekutive und die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen schonungslos adressieren und unserem einzigartigen, einst erfolgreichen Föderalismus wieder einen Sinn geben.

* Die Zürcher glp-Nationalrätin Judith Bellaiche ist Geschäftsführerin von Swico, dem Wirtschaftsverband der ICT- und Onlinebranche

www.swico.ch

www.judithbellaiche.ch

Meist Gelesen