Publiziert am: 15.05.2020

Jugendlichen eine Chance geben

LEHRLINGSAUSBILDUNG – Die Lehr­stellensuche findet unter erschwerten Bedingungen statt. Doch auch in der Krise darf nicht auf die eminent wichtige Investition in qualifizierten Berufs­nach­wuchs verzichtet werden – so die Forderung des sgv. Lehrbetriebe, Berufsverbände und Berufsberatungen benutzen neu digitale Möglichkeiten zur Nachwuchsrekrutierung.

Im Frühjahr setzen sich Schüler der 2. und 3. Oberstufe eigentlich mit der Berufswahl und Lehrstellensuche auseinander. Doch die aktuelle Situation macht diesen Jugendlichen einen Strich durch die Rechnung. Wegen der Corona-Krise sind derzeit weder Schnupperlehren im üblichen Rahmen noch persönliche Vorstellungsgespräche möglich, und die Lehrstellensuche findet unter ­erschwerten Bedingungen statt. «Unsere Arbeit lebt geradezu vom Kontakt. Diesen plötzlich einzuschränken, war eine grosse Herausforderung und hat die Kundschaft verunsichert. Denn die Jugendlichen lernen Beruf und Lehrbetrieb normalerweise über Berufseinblicke und Schnupperlehren kennen. Dass dies nicht mehr möglich ist, verunsicherte sie und liess sie ihre Bemühungen einstellen», erklärt Bettina Beglinger, Abteilungsleiterin des BIZ Luzern. Die Berufsberatung motiviert Jugendliche und Eltern, den Bewerbungsprozess wieder anzukurbeln – wenn auch nicht in gewohnter Art und Weise. Dazu Daniel Reumiller, Leiter BIZ Berufsberatungs- und Informationszentren des Kantons Bern und Präsident der Schweizerischen Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Berufs- und Studienberatung (KBSB): «Die Betriebe bieten zum Teil virtuelle Informationsmöglichkeiten an und die meisten Kantone stellen auf Distanzberatung wie etwa Telefon, Mail, Chat, oder Skype um. Weiter haben wir wichtige Informationen auch als Videos aufgeschaltet. Auf www.berufsberatung.ch besteht neu ein Chat-Raum.» Auch Lehrstellenbörsen und Matching-Tools wurden eingerichtet, damit sich Betriebe und Jugendliche finden (vgl. Kasten). «Wir nutzen alle Beratungs- und Begleitangebote. Die enge Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen der Abschlussklassen ermöglicht, umgehend mit Jugendlichen in Kontakt zu treten, die auf Unterstützung angewiesen sind. Die Lehrpersonen weisen Jugendliche gezielt auf die diversen digitalen Möglichkeiten hin», so Beglinger. Mit den Lockerungsmassnahmen sind wieder einigermassen normale Rekrutierungsprozesse möglich. «Eine Herausforderung stellt die gegenwärtige Situation aber auch für Jugendliche des zweitletzten Schuljahrs dar, die sich noch in der Phase der Berufserkundung befinden. Wegen der eingeschränkten Möglichkeiten für Schnupperlehren droht der Prozess der Berufswahl in Verzug zu geraten», so Reumiller.

Doch die Unsicherheit ist nach wie vor gross, sowohl bei den Schul- und Lehrabgängerinnen und -gängern und ihren Eltern als auch in den Berufsinformationszentren, bei den Lehrbetrieben und den Berufsverbänden. Dies bestätigt auch Rémy Hübschi, Vizedirektor und Leiter Berufs- und Weiterbildung beim Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI: «Wie sich die Corona-Pandemie konkret auf die Lehrstellensituation und den Berufseinsteigermarkt auswirkt, ist vom weiteren Verlauf der Pandemie abhängig und momentan noch nicht klar absehbar.» Das SBFI ist sich der aussergewöhnlichen Lehrstellensituation bewusst und hat daher eine Taskforce eingesetzt. Sie wird sich neben dem Erhalt von Lehrstellen auch um die Situation der Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger kümmern. «Massnahmen für dieses Zielpublikum werden hauptsächlich vom SECO getroffen werden müssen. Damals, in der Wirtschaftskrise, haben wir dafür gesorgt, dass die jungen Erwachsenen beim Bewerben und bei der Laufbahnplanung unterstützt wurden. Ob dies auch eine Antwort auf ­Covid-19 ist, werden wir mit den Verbundpartnern – Wirtschaft und Kantone – diskutieren müssen», so Hübschi.

Lehre ist Win-win-Situation

Unter dem Motto «Jugendlichen eine Chance geben» setzt sich der Schweizerische Gewerbeverband sgv an vorderster Front für eine effiziente Lehrlingsausbildung trotz Corona-Krise ein. Er ist im Steuergremium im Rahmen der Initiative «Berufsbildung 2030» engagiert. Auch in der Arbeitsgruppe «Perspektive Lehrstelle 2020» setzt sich der grösste Dachverband der Schweizer Wirtschaft für die KMU und die Jugendlichen ein. Der sgv fordert in diesen Gremien klar, dass ein geordneter Berufswahlprozess stattfindet. «Es ist deshalb unabdingbar, dass Lehrbetriebe, die bis anhin ausgebildet haben, dies auch in Zukunft tun. Lehrstellen müssen wann immer möglich, auch Jugendlichen, die sich spontan interessieren, zur Verfügung gestellt werden», betont Christine Davatz, sgv-Vizedirektorin und Verantwortliche für die Berufsbildung. Und sgv-Direktor Hans-Ulrich Bigler doppelt nach: «Neigung und Eignung müssen im Vordergrund stehen und dazu gehört zwingend auch eine Schnupperlehre.» Der sgv fordert deshalb die Kantone auf, dass die Lehrpersonen in den Volksschulen mit den Jugendlichen das Thema intensiv bearbeiten. «Die Investition in einen Jugendlichen, der einen Beruf erlernen möchte, lohnt sich für beide Seiten. Eine Win-win-Situation für das Unternehmen und den engagierten und künftig gut ausgebildeten Jugendlichen», ist Davatz überzeugt.

Dies sieht auch die Thurgauer SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr so. Als Inhaberin und Geschäftsführerin des Stahl- und Metallbauunternehmens Ernst Fischer AG in Romanshorn, ist sie, soweit als möglich, zur Normalität zurückgekehrt, ohne natürlich den gesundheitlichen Aspekt ausser Acht zu lassen – auch in der Lehrlingsausbildung. «Wir führen im gegenseitigen Einverständnis mit den Bewerbern Schnuppertage oder Bewerbungsgespräche durch.» Das funktioniere recht gut. «Die Jugendlichen sind sehr dankbar für diese Chance und kommen gerne.»

Geschickte Kommunikation

In der Schweiz sind momentan über 15 000 Lehrstellen unbesetzt. 720 offene Lehrstellen für 2020 sind noch bei den technischen Grundbildungen des Auto Gewerbe Verbands Schweiz AGVS zu vergeben. «Es fehlen nun gut zwei Monate, in welchen wir kaum AGVS-Eignungstests wie auch kaum Schnupperlehren durchgeführt haben. Dies betrifft sowohl die Rekrutierungsphase 2020 wie auch 2021», sagt Olivier Maeder, AGVS-Verantwortlicher für Aus- und Weiterbildung. Und das Geschäftsleitungsmitglied ergänzt: «Ohne Schnupperlehre und Eignungstests werden kaum Lernende angestellt. Es ist niemandem gedient, wenn die Lehrabbruchsquote im Jahr 2020 aufgrund eines mangelhaften Rekrutierungsprozesses massiv ansteigt.» Ab dem 11. Mai soll der Rekrutierungsprozess jedoch wieder Fahrt aufnehmen. Dazu hat der Verband für die Schnupperlehren spezielle Schutzmassnahmen ausgearbeitet. «In dieser schwierigen Situation ist jetzt bei den Jugendlichen Geduld und bei den Betrieben geschickte Kommunikation gefragt», so Maeder. Zudem haben interessierte Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, online zu schnuppern. Sie können sich so bequem auf der Website www.autoberufe.ch über die verschiedenen Autoberufe informieren. Der innovative Verband verfügt über aktuelle und aussagekräftige Videos zu den Grundbildungen Automobil-Fachmann/-frau und Automobil-Assistent/-in. Diese sind vor einem Jahr in Zusammenarbeit mit dem schweizerischen Dienstleistungszentrum für Berufsbildung (SDBB) erstellt worden.

Gemäss Maeder müssen aber auch Anreize für Ausbildungsbetriebe insbesondere für KMU geschaffen werden, damit diese auch in der aktuell äusserst schwierigen Situation die Lernenden in der bisherigen Anzahl rekrutieren. «Eine Möglichkeit wäre, die Lehrverträge 2020 ein bis zwei Monate nach dem offiziellen Lehrbeginn abzuschliessen oder beispielsweise Anreize für Ausbildungsbetriebe zu schaffen mit einer Prämie pro neuem Lernenden.» Denn auch in der Automobilbranche ist die Fachkräftesituation angespannt. «Vorausgesetzt die Wirtschaft nimmt im 2. Semester 2020 wieder Fahrt auf, sind wir inklusive den Detailhandels- und den kaufmännischen Berufen auf rund 3000 neue Lernende angewiesen. Nur so können wir den Fachkräftebedarf qualitativ und quantitativ auch in den kommenden Jahren sicherstellen», stellt Maeder fest. Ein kleiner Silberstreifen am Horizont ist jedoch sichtbar: Rund 50 Prozent der Lehrabgänger im Autogewerbe haben bereits eine neue Stelle gefunden. «Im Moment ist das ungefähr derselbe Stand wie im Vorjahr.»Corinne Remund

www.berfusbildung2030.ch

VIRTUELLE LEHRSTELLENBÖRSE

Wir koordinieren und vernetzen!

Der kantonal-solothurnische Gewerbeverband und die Solothurner Handelskammer wollen mit einer virtuellen Lehrstellenbörse Schülerinnen und Schüler wie auch Ausbildungsbetrieben in der herausfordernden Covid-19-Krise mit einem neuen Instrument unterstützen, einander zu finden. Auf der Website des kantonal-solothurnischen Gewerbeverbandes können sich so künftige Lernende mit ihrem Dossier bewerben. Die Lehrbetriebe melden über dieselbe Homepage ihr Angebot an freien Lehrstellen. Nach einer Prüfung der Dossiers werden Lehrstellensuchende und Betriebe miteinandervernetzt. Thomas Jenni, Projektleiter Berufsbildungsmarketing des kgv Solothurn, hat spezielle auf Corona hin dieses Projekt lanciert. Die Idee entstand aus der Diskussion zwischen Unternehmen und Schule. «Es gibt nach wie vor zahlreiche Jugendliche, die eine Lehrstelle suchen, und Betriebe, die noch offene Lehrstellen haben. Nur das Zusammenführen hinkt zurzeit. Wir helfen hier nach, indem wir koordinieren und vernetzen», so Jenni. Die Reaktion der KMU ist durchwegs positiv – so sind Anfang Mai 81 Ausbildungsbetriebe angemeldet, die rund 110 Lehrstellen zu vergeben haben. Eingegangen sind Anfang Monat rund 60 Bewerbungsdossiers, wobei laufend Bewerbungen und Angebote reinkommen.CR

www.kgv-so.ch/lb

Meist Gelesen