Publiziert am: 04.09.2020

«Kein Prestigeobjekt»

BUNDESRÄTIN VIOLA AMHERD – «Niemand kann vorhersagen, wie sich die Sicherheitslage entwickelt», sagt die Verteidigungsministerin. Deshalb brauche die Schweiz neue Kampfjets. Zumal unser Land es sich leisten könne, für seine Sicherheit selber zu sorgen.

Schweizerische Gewerbezeitung: Vielen, vor allem jungen Menschen in der Schweiz scheint nicht mehr klar zu sein, weshalb unser Land eigentlich eine Armee braucht. Was antworten Sie ihnen?

Bundesrätin Viola Amherd: Die letzten Monate haben es deutlich gezeigt: Niemand kann vorhersagen, wie sich die Sicherheitslage entwickelt. Deshalb braucht es die Armee auch heute noch. Hätte ich Ihnen Anfang des Jahres erzählt, dass der Bundesrat zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg eine Mobilmachung der Armee in diesem Ausmass beschliessen würde – Sie hätten mich für verrückt erklärt. Die Verteidigung und der Schutz von Bevölkerung und Land sind der Kern einer Armee. Zudem leistet sie subsidiäre Einsätze zur Unterstützung von Zivilen. Gerade die Pandemie hat gezeigt, dass dieser Auftrag noch immer seine Berechtigung hat. Die Kantone haben die Unterstützung eingefordert, die Armee hat diese sichergestellt.

Die Schweiz gilt als sehr sicheres Land. Nun soll sie fĂĽr sechs Milliarden Franken neue Kampfflugzeuge beschaffen. Wieso ist das notwendig?

Wir haben das Privileg, in einem sicheren Land zu leben. Die Situation kann sich jedoch rasch ändern. Als Verteidigungsministerin ist es meine Aufgabe, den Schutz der Menschen in der Schweiz gegen die verschiedensten Bedrohungen zu gewährleisten. Dazu gehören auch solche aus dem Luftraum. Die heutigen Kampfflugzeuge müssen ersetzt werden. Die bestehende Flotte ist technisch veraltet und an ihrem Nutzungsende angelangt. Damit die Bevölkerung in der Schweiz auch nach 2030 vor Angriffen und Bedrohungen aus der Luft geschützt ist, müssen wir die Beschaffung der neuen Kampfflugzeuge heute angehen.

Geht es um die Luftverteidigung, so scheint die Schweiz ein Land der Experten zu sein – fast jeder weiss es besser. Wie wollen Sie ein so umfassendes Thema wie die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge der Bevölkerung erklären?

Für mich war essenziell, das Projekt in all seinen Details zu verstehen und mir eine eigene Meinung zu bilden. Deshalb habe ich eine Zweitmeinung von Claude Nicollier eingeholt. Ich kann den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern garantieren, dass die Pläne zur Beschaffung der neuen Kampfflugzeuge auf umfassenden Abklärungen und fundierten Analysen beruhen. Es handelt sich nicht um ein Prestigeobjekt der Armee. Es geht nicht darum, den Piloten der Luftwaffe ein schönes Flugzeug zur Verfügung zu stellen. Es geht einzig und allein um den Schutz vor Bedrohungen aus der Luft, und damit um die Sicherheit der Menschen in unserem Land.

Weshalb braucht die Schweiz überhaupt eigene Kampfjets – sie ist ja von befreundeten Staaten umgeben?

Als neutrales Land inmitten von Europa muss die Schweiz selber in der Lage sein, ihren Luftraum zu verteidigen und ihre Bevölkerung vor Bedrohungen aus der Luft zu schützen. Es darauf ankommen zu lassen und zu glauben, unsere Nachbarn würden uns dann im Fall der Fälle schon in ihren Schutzschirm integrieren, ist fahrlässig. Abgesehen davon, dass ein Beitritt zu einer internationalen militärischen Allianz mit der Neutralität nicht vereinbar wäre, ist das für mich auch eine Frage der Solidarität mit anderen Ländern. Zumal wir es uns wirtschaftlich leisten können, für unsere Sicherheit selber zu sorgen.

Wären Kampfhelikopter oder leichte Kampfflugzeuge, eventuell auch Drohnen, eine Alternative zu den von Ihnen gewünschten Kampfjets?

Nein. Das haben wir alles geprüft. Solche Geräte können zu wenig hoch fliegen, sind zu langsam oder haben nicht die erforderlichen Radare und die nötige Bewaffnung. Derzeit sind auf dem Markt keine leichten Kampfflugzeuge erhältlich, welche die Minimalanforderungen auch nur für den Luftpolizeidienst erfüllen, geschweige denn die Anforderungen für den Schutz in einer Krise. Das gilt auch für Drohnen und Helikopter.

Wie steht es mit der bodengestützten Luftverteidigung – kann sie mithelfen, dass die Schweiz allenfalls ohne eigene Luftwaffe auskommt?

Wir brauchen die Kombination von beidem, um eine effiziente Luftverteidigung sicherzustellen. Die bodengestützte Luftverteidigung ermöglicht zwar Durchhaltefähigkeit und Permanenz beim Schutz von Gebieten und wichtigen Gebäuden. Zudem kann sie ein breites Spektrum an Zielen bekämpfen, insbesondere auch Luft-Boden-Lenkwaffen. Allerdings lassen sich bodengestützte Mittel nicht so schnell verschieben. Kampfflugzeuge sind viel flexibler und für vielfältigere Aufgaben einsetzbar – von der Luftpolizei bis zur Unterstützung der Bodentruppen.

Die Gegner der Vorlage, allen voran die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), wirft Ihnen die «Verschleuderung von Steuermilliarden» vor. Wie antworten Sie?

Die Kampfflugzeuge werden über das ordentliche Armeebudget finanziert. Andere Bereiche wie beispielsweise Soziales, Gesundheit, Bildung und Forschung oder die Umwelt- und Klimapolitik müssen wegen der Gesamterneuerung der Luftwaffenflotte keine Abstriche machen. Dennoch bin ich mir bewusst: Das ist eine grosse Investition. Es handelt sich um Steuergeld, mit dem ich haushälterisch und korrekt umgehen will. Deshalb werden wir auch weiterhin transparent über die einzelnen Beschaffungsschritte informieren.

Andere Gegner der Kampfjet-Beschaffung monieren, die Schweiz sollte sich besser um die Abwehr von Cyber-Angriffen kümmern. Was ist gefährdeter: der Luftraum oder der digitale Raum?

Wir dürfen das eine nicht gegen das andere ausspielen. Gerade die Corona-Pandemie zeigt, dass Bedrohungen vielfältig sind und Krisen oder Katastrophen unerwartet kommen. Neue Bedrohungsformen lösen konventionelle nicht ab, sondern ergänzen diese. Auch ein Cyberspezialist nützt mir wenig, wenn ein Terrorist mit einem Flugzeug in Genf eine Friedenskonferenz zu Syrien angreift. Wir brauchen auch in Zukunft ein breit aufgestelltes Sicherheitsdispositiv, das es uns erlaubt, je nach Bedrohung die erforderlichen Massnahmen zu ergreifen.

60 Prozent des Kaufpreises für die neuen Jets sollen durch Aufträge an Schweizer Unternehmen kompensiert werden. Welche Unternehmen und Regionen können sich hier im Fall einer Annahme der Vorlage auf Arbeit freuen?

Kompensationsgeschäfte sind für die Schweiz aus strategischer und sicherheitspolitischer Sicht von Bedeutung. Es geht dabei natürlich um viele KMU und Arbeitsplätze, die in der Schweiz in allen Landesteilen angesiedelt sind, sowie um den Know-how-Transfer und den Zugang zu internationalen Märkten. Die regionale Verteilung der Offsetgeschäfte ist dabei wichtig. 65 Prozent der Aufträge werden in der Deutschschweiz vergeben. Die Westschweiz erhält 30 und die italienischsprachige Schweiz 5 Prozent. Es finden bereits Kontakte zwischen der Schweizer Industrie und den Flugzeugherstellern statt. Dabei geht es um die Umsetzung dieser Gegengeschäfte. Welche Firmen das am Ende aber sein werden, ist noch nicht bestimmt. Übrigens profitiert die Wirtschaft nicht nur bei den neuen Kampfflugzeugen von diesen Gegengeschäften. Sondern auch bei den übrigen Beschaffungen. Wir investieren insgesamt 15 Milliarden Franken in etwa 15 Jahren.

Stimmt die Schweiz am 27. September dem Rüstungsgeschäft zu: Wie geht es dann weiter?

Im November reichen die Hersteller, die noch im Rennen sind, ihre zweiten Offerten ein. Danach erarbeiten wir einen Evaluationsbericht und 2021 steht dann die Typenwahl an. Die konkrete Flugzeugbeschaffung wird der Bundesrat dem Parlament mit der Armeebotschaft 2022 vorlegen. Die Auslieferung neuer Kampfflugzeuge und eines Systems der bodengestützten Luftverteidigung grösserer Reichweite erfolgt voraussichtlich ab 2025 bis 2030.

Was geschieht, wenn die Abstimmung – wie schon 2014 beim Gripen – bachab geht und die Beschaffung neuer Kampfjets abgelehnt wird?

2014 sollte nur ein Teil der veralteten Tigerflotte ersetzt werden. Heute geht es um die Erneuerung der gesamten Kampfflugzeugflotte der Luftwaffe. Und damit um die Grundsatzfrage, ob die Schweiz ihre Bevölkerung auch in Zukunft vor Bedrohungen aus der Luft schützen kann. Wird die Vorlage abgelehnt, stellt sich generell die Frage, wie es mit der Luftwaffe weitergeht, und damit nach der künftigen Ausrichtung der Schweizer Armee.

Interview: Gerhard Enggist

www.vbs.ch/air2030

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