Publiziert am: 18.02.2022

Napoleons Gnade der Geburt

Die Covid-Pandemie hat richtigerweise zur Frage der Zukunftsfähigkeit des Föderalismus geführt. Die Schweiz hat – bis jetzt – die Pandemie so gut wie kaum eine andere westliche Demokratie bewältigt. Der Föderalismus hat einen wichtigen Anteil daran. Gleichwohl hat er einen schweren Stand.

SP und SVP sind sich einig, dass sie Kantonsgrenzen neu ziehen oder Städten eine eigene kantonsunabhängige, zusätzliche Repräsentanz auf Bundesebene zugestehen wollen. Avenir Suisse bezeichnete schon 2005 den Föderalismus als überholte Fragmentierung der Schweiz, die vornehmlich Kosten verursache, und wollte dagegen Metropolitanregionen und freie Bahn für eine globale Wirtschaft. Aber der Föderalismus ist auch ausserhalb liberaler Radikaler nicht besonders populär: «Flickenteppich» ist noch das harmloseste Substantiv, das dann immer von jemandem hervorgeholt wird, der etwas einheitlich, national, und gleichförmig geregelt haben möchte, natürlich unter eigener Führung.

Die Schweiz ist ein geniales, austariertes und höchst modernes System: Sie hat institutionell gewollt die schwächste Regierung der Welt. Sie reduziert die Ausübung von Macht von Menschen über andere Menschen auf das nötigste Minimum. Mit der Folge, dass die Freiheit der Menschen in diesem Staatsgebilde maximiert wird. Um das zu erreichen, haben die Gründer des heutigen Bundesstaats so viele Machtbrechungsmechanismen eingeführt, wie es nur ging: Initiativen, Referenden, Subsidiarität bis auf Gemeindeebene, ein Parlament mit zwei gleich berechtigten Kammern, Föderalismus. Das einzige Land, in dem selbst in höchster Eile beschlossene Regierungsmassnahmen in der Krise dem Referendum unterstellt werden, ist die Schweiz. Das Ausserordentliche an der Pandemie ist nicht, dass die Regierung sich diktatorisch aufführt, sondern dass selbst in dieser ausserordentlichen Situation die Regierung nicht beschliessen kann, was sie will, und es gilt unveränderbar. Mit dem Unterschied, dass Referendumsabstimmungen nicht wie üblich vor dem Inkrafttreten des Gesetzes entscheiden, sondern während des Inkraftseins.

Die Schweiz ist ein äusserst kompliziertes, fein austariertes institutionelles Gesamtkunstwerk. Manchmal kommt sie mir vor wie ein Kunstwerk von Tinguely. Von aussen betrachtet, ist sie ein unmöglich unübersichtliches Gebilde. Das genaue Hinsehen zeigt den Sinn. «Glückliche Ereignisse haben mich an die Spitze der französischen Regierung berufen, und doch würde ich mich für unfähig halten, die Schweizer zu regieren», soll der Machtmensch Napoleon gesagt haben. Ihm widerfuhr die Gnade, in Frankreich geboren worden zu sein. Die Vielfalt der Schweiz, die Abneigung der Schweiz gegenüber dem Zentralismus und der Souveränitätsanspruch der Kantonemachen dieses Land zu einem Ärgernis für Politiker mit dem Anspruch, ihre Macht über die Menschen auszudehnen. Das ist gut für die Menschen, die von diesen Menschen regiert werden.

Der Föderalismus erhöht die Komplexität im Bundesstaat Schweiz, der ein vielfältiges, vielstimmiges demokratisch-freiheitliches Gesamtkunstwerk darstellt, das die Freiheit der Menschen, die darin leben, bewahrt, indem sie den Politikerinnen und Politikern das Durchregieren verunmöglicht, ihnen das Leben so schwer macht wie nur möglich. Zu Recht. Denn je mehr Komplexität, umso weniger Macht bei denen, die es einfach mögen. Das sind die Gefährlichen. Vor solchen Menschen bewahren uns auch der Föderalismus und die Souveränität der Kantone. Da, wo sie durch die Bundesverfassung nicht beschränkt wird. Wir sollten dabei bleiben.

*Der Zuger Nationalrat Gerhard Pfister ist Präsident Die Mitte Schweiz.

www.die-mitte.ch

www.gpfister.ch

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