Publiziert am: 03.04.2020

«Ohne sie geht gar nichts»

PFLEGEFACHKRÄFTE – Ohne ausländische Fachkräfte wäre die gegenwärtige Corona-Krise nicht zu bewältigen, sagt der Rorschacher Mediziner Andreas Hartmann. Als Gewerbeverbandspräsident weiss er: Auch Industrie und Gewerbe sind auf ausländische Mitarbeitende angewiesen.

Die Schweiz wird immer älter. Laut Bundesamt für Statistik lag die Lebenserwartung für Frauen 2018 bei 85,4, jene der Männer bei 81,7 Jahren. Diese Entwicklung hat Folgen nicht nur bei der Rentenfrage, sondern auch, was die gesundheitliche Versorgung der Rentnerinnen und Rentner betrifft. In diesem Zusammenhang lässt eine Zahl aufhorchen, die gfs zürich kürzlich im Auftrag von Pro Senectute ermittelt hat. Hochgerechnet 180 000 Personen – d. h. etwas mehr als jede zehnte Person – im Pensionsalter geben an, sich bei der Gesundheitsversorgung benachteiligt zu fühlen. Als Beispiele werden in der nationalen Umfrage zu «Benachteiligung aufgrund des Alters» u. a. hohe Gesundheitskosten genannt, wie die neue Pro-Senectute-Direktorin Ursula Koch gegenüber dem Senioren-Magazin «Zeitlupe» festhält. Einzelne der befragten Pensionierten, so Koch, fühlten sich «bei der Diagnose, Behandlung und Rehabilitation nicht ernst genommen oder sie haben das Gefühl, dass ihnen Behandlungen aufgrund des Alters vorenthalten werden».

Bei der Gesundheitsversorgung geben laut der gfs-Studie insbesondere die Altersgruppen der 40- bis 64-Jährigen und die 65- bis 79-Jährigen mit je 12 Prozent an, sich aufgrund des Alters eingeschränkt zu fühlen. Jede fünfte Person, die sich bei der Gesundheitsversorgung benachteiligt fühlt (21 Prozent), gibt als Beispiel an, sich als Patientin oder Patient aufgrund des Alters nicht ernst genommen zu fühlen. Tendenziell fühlen sich die Deutschschweizer bei der Gesundheitsversorgung aufgrund des Alters stärker benachteiligt als die Tessiner oder Romands.

Alte besonders gefährdet

Die Studie des Instituts für Markt- & Sozialforschung gfs-zürich – ­dafür wurden vom 20. März bis ­13. April 2019 total 1311 Personen, 646 Männer und 665 Frauen, telefonisch befragt – ist Anfang Oktober 2019 erschienen. Monate vor dem Ausbruch der Corona-Krise also, welche die Schweiz und die Welt derzeit in Atem hält und die, wie inzwischen bekannt ist, für betagte Menschen ganz besonders bedrohlich ist.

Speziell für ältere Menschen ab 65 Jahren und Personen mit bestehender Vorerkrankung ist das neue Coronavirus besonders gefährlich, wissen die Spezialisten im Bundesamt für Gesundheit (BAG). Überdurchschnittlich gefährdet, schwer zu erkranken, sind Personen mit Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Erkrankungen und Therapien, die das Immunsystem schwächen, sowie Patienten mit einem Krebsleiden.

332 000 Personen arbeiten im Gesundheitswesen

Im Jahr 2017 gab es in der Schweiz 17 560 Arztpraxen und ambulante Zentren. An den 17 860 Standorten arbeiteten über 20 000 Ärztinnen und Ärzte. 2018 erbrachten 281 Spitäler Dienstleistungen an 580 Standorten.

Insgesamt arbeitetet im Jahr 2018 rund 332 000 Personen im Gesundheitswesen, ca. 168 000 in Spitälern, gut 96 000 in Pflegeheimen und 44 000 in Arztpraxen. Gut 12 Prozent der Bevölkerung wurden 2017 mindestens einmal hospitalisiert.

Der Bedarf von Fachpersonal im Pflegebereich wächst weiter rasant. Von den Fachkräften, die in Schweizer Spitälern, bei Spitex-Diensten und Pflegeheimen arbeiten, stammt mittlerweile jede zweite Kraft aus dem Ausland.

Froh um jegliche UnterstĂĽtzung

Das für die Gesundheitsversorgung der Schweiz zuständige BAG wie auch der Bundesrat empfehlen, derzeit nach Möglichkeit zu Hause zu bleiben – auch für die Arbeit. Personen jeglichen Alters, die den Verdacht hegen, sich mit dem Coronavirus angesteckt zu haben, sollen keinesfalls direkt die Notfallaufnahmen der Spitäler oder die Arztpraxen aufsuchen, sondern sich bei ihrem Hausarzt melden.

Einer dieser Hausärzte ist der ­St. Galler Allgemeinmediziner Andreas Hartmann, Verwaltungsratspräsident des Medizinischen Zentrums Rorschach/SG. Der 64-jährige Hartmann präsidiert überdies den kantonalen Gewerbeverband ­St. Gallen, ist Mitglied der Gewerbekammer des Schweizerischen Gewerbeverbands sgv und seit dem Jahr 2000 und noch bis Mai 2020 FDP-Kantonsrat.

Einer von sechs Ärzten am Medizinischen Zentrum Rorschach (MZR) stammt aus Deutschland. «Wir sind namentlich in der aktuellen Situation mit sehr häufigen Konsultationen wegen Infekten der Luftwege äusserst froh um die Unterstützung durch unseren Arzt aus Deutschland», sagt Hartmann. «Aber auch in Zeiten mit Routinebetrieb könnten wir ohne sein Mitwirken die anfallenden Konsultationen nicht bewältigen. Wie die Erfahrungen mit Arztpraxen in der Umgebung zeigen, bei welchen der Praxisinhaber seinen Betrieb einem jüngeren Arzt übergeben wollte, liess sich dort meistens kein ­Schweizer Arzt finden, der die Praxis übernehmen wollte. In der Regel werden diese Praxen von ausländischen Kolleginnen und Kollegen übernommen.»

Corona-Krise ohne ausländische Fachkräfte nicht zu bewältigen

Was würde es für die Versorgung der Bevölkerung rund um das MZR bedeuten, wenn ausländische Fachkräfte nicht mehr in der Schweiz arbeiten dürften?

«Die medizinische Versorgung der Bevölkerung wäre», stellt Hartmann klar, «mangels Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegepersonal in den Spitälern, bei den Spitex-Diensten und in den Arztpraxen nicht mehr gewährleistet. Und dies schon ohne Corona.»

Und wie steht es um den medizinischen Nachwuchs? «Es herrscht im Gesundheitswesen bei den Fachkräften ein ausgesprochener Mangel an Nachwuchspersonal. Dieser kann nur mit ausländischen Fachkräften gedeckt werden.» Geschätzt geht Hartmann von einem regionalen Fachkräftemangel von rund 50 Prozent aus, und für ihn steht ausser Zweifel: «Die Corona-Krise könnte ohne ausländisches Fachpersonal schon gar nicht bewältigt werden.»

Mangel auch inGewerbe und Industrie

Soweit der Hausarzt mit langjähriger Erfahrung. Als kantonaler ­Gewerbepräsident steht für den ­St. Galler fest: «Auch wenn derzeit viele Betriebe geschlossen sind: In den übrigen Bereichen aus Industrie und Gewerbe herrscht normalerweise ebenso ein ausgeprägter Fachkräftemangel. Wenn die Rekrutierung ausländischer Fachkräfte verunmöglicht oder auch nur begrenzt würde, kämen viele Bereiche in ernsthafte Probleme, namentlich das Gast- und Baugewerbe.»

Die für den 17. Mai angesetzte Abstimmung über die Begrenzungsinitiative wird wegen der Corona-Krise nicht stattfinden resp. auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Der Vorstand des St. Gallischen Gewerbeverbandes hat dennoch schon – und zwar mit deutlichem Mehr – beschlossen, der Präsidentenkonferenz für die Fassung der Abstimmungsparole ein Nein zu empfehlen.

Gerhard Enggist

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